Schwarzwasser- Altvater

Sagen aus Westschlesien

Sagen aus der Stadt und der Umgebung von Weidenau,(Schwarzwasser,Kaltenstein,Friedeberg, u.s.w.)
   

Sagen aus Westschlesien

 

Sagen aus Westschlesien  von  Adolf  Rompel .

 

Sagen aus der Stadt und der Umgebung von Weidenau

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

1.        Der Wunderdoktor von Weidenau

2.        Der Butterstein zu Weidenau

3.        Die Spillalutsche

4.        Die Katze vom Schlosse Gilgenheimb

5.        Beim Lohteiche

6.        Der Feuermann von Altrothwasser

7.        Die Herrin im Schlosse zu Schwarzwasser

8.        Die Reichenauer auf Kaltenstein

9.        Der schlesische Streuselkuchen

10.     Der Burg Friedberg letzte Tage

11.     Der steinerne Junge auf dem Koblitzberge

12.     Die Letzten aus dem Geschlechte Koblitz

13.     Der nächtliche Jäger bei Siebenhuben

14.     Der Lindwurm auf dem Gigerberge bei Gurschdorf

15.     Der Schwedensoldat in Setzdorf

16.     Der steinerne Junge bei Domsdorf (Kurzversion  #11)

17.     Die Fenismännchen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Wunderdoktor von Weidenau

 

Rüdiger Helldore hatte im Anfange des 13. Jahrhunderts auf bischöflichem Grunde in einer sich ziemlich weit aus-breitenden Weiden-Au ein kleines, aber nettes Städtchen angelegt und war dafür vom Bischof Thomas I. - der vom Jahre 1232 bis zum Jahre 1268 Bischof von Breslau war - mit mannigfachen Rechten und Gewalten ausgestattet worden. Die von ihm angelegte Stadt erhielt nach der ursprünglichen Beschaffenheit des Baugrundes den Namen Weidenau. Lange wohnte das Bürgerglück in den Mauern der Stadt, bis durch die Hussitenkriege im 15. Jahrhundert und später durch die Schwedenkriege die Pest und andere verheerende Krankheiten eingeschleppt wurden, die jede Ruhe und Sorglosigkeit der städtischen Bewohner auf Jahrzehnte hinaus verscheuchten und verbannten.    

 

Die Stadtältesten hielten lange Beratungen und kamen endlich zu dem Entschlusse, einen eigenen Doktor in die Stadt zu berufen, der im Falle einer neuen Krankheitsgefahr mit klugem Sinn und reicher Erfahrung für das Wohl und für die Gesundheit der Bürgerschaft Weidenau hätte sorgen müssen. Wenn es auch in den meisten damaligen Städten Schlesiens den einen oder den anderen Doktor gab, dies konnte dem Städtchen Weidenau wenig oder gar nichts nützen, weil diese nicht gar leicht hergeholt werden konnten, zumal dann, wenn sie bei plötzlichen Erkrankungen just am notwendigsten gewesen wären.

Nach längerem Zuwarten meldete sich endlich ein Doktor, der sein Glück im Städtchen versuchen wollte. Er legte sich nach der damaligen Gepflogenheit der Gelehrten den griechischen Namen Theophrastus bei, obgleich er von rein deutschen Eltern abstammte.

Und es dauerte gar nicht mehr lange, da ging eine mittelgroße, ziemlich beleibte Persönlichkeit im langen, bis an die Knie reichenden, faltigen Rock durch die engen Straßen und Gäßlein der Stadt; es war der neue Doktor Theophrastus, der bald als geachtete Größe in der Bürgerschaft angesehen wurde. Stets schritt er mit gesenktem Haupte einher. In seinem Gehirne wälzten sich ungewöhnlich große Gedanken, die den Stein der Weisen zu entdecken trachteten. Sein Augenpaar blickte forschend durch zwei dicke Brillengläser vor sich hin zu Boden. Er grüßte niemanden auf seinen Gängen, wurde aber um so mehr ehrfurchtvollst von Groß und Klein gegrüßt; sein ungefähr fünfzig Jahre alter Mund sprach selten und dann auch nur wenig, dafür arbeitete aber sein Geist um so emsiger und reger.

Welchen Dingen und Wissenschaften er nachgrübelte, wurde nie ein Mensch gewahr.

Eines Tages kam Theophrastus auf seinen einsamen Spaziergange in einen alten Tannenwald, der sich von der Stadt gegen Südost hinzog. Kühle war’s im grünen Tann und stille, so dass jedes Brummen und Summen der zahlreichen Insekten gehört werden konnte, die fliegend die würzige Waldesluft durcheilten. Der Spaziergänger achtete nicht darauf, denn es kam ihm als ein Verbrechen vor, durch derlei Kleinigkeiten sich in seinen hohen Gedankenkreisen stören zu lassen.

Da, mit einem Ruck des plötzlichen Erschreckens, hielt er in seinem Gange inne, denn eine gedämpfte Stimme rief hinter ihm ganz unvermittelt: „Lass mich heraus! Lass mich heraus!“

Theophrastus horchte auf.

Wieder ertönte nach einigen Augenblicken der geheimnisvolle Ruf: „Lass mich heraus! Lass mich heraus!“

Der Doktor machte kehrt und ging auf die Stelle zu, woher ihn die Worte zu kommen schienen. Nur einige Schritte, und er stand vor einer alten Tanne, die im Stamme zum größten Teile vermorscht und hohl war, gegen den Himmel zu aber einen siebenfachen Wipfel trug. Staunend über das sieben-wipflige Naturwunder, schüttelte der Gelehrte das Haupt; da vernahm er zum dritten Mal den flehenden Ruf, der deutlich aus dem hohlen Baume ertönte.

Theophrastus trat nun ganz nahe hinzu, rückte das runde Brillenglas an die forschenden Augen und guckte dann in die Höhlung hinein. Zu seinem Befremden fand er darin ein Fläschchen, das überaus fest verstopft war. Als Inhalt war eine farblose, helle Flüssigkeit zu sehen, in der ein winzig kleines mit den Augen kaum bemerkbares Pünktchen herum-schwamm.

 

Der Doktor nahm das rätselhafte Fläschlein in die Hand, betrachtete es von allen Seiten, roch an ihm, ohne recht zu wissen, was er damit anfangen sollte. Da rief’s abermals, diesmal aus dem Fläschchen: „Lass mich heraus! Lass mich heraus!“

Ein geheimnisvolles Wesen im Fläschlein bat um Befreiung und versprach dem Theophrastus, wenn er es herauslasse, ihm das Kraut des Lebens zu zeigen, mit dessen Safte er alle Krankheiten heilen und Eisen in Gold verwandeln könne.

Der gelehrte Spaziergänger stieß bei diesem Versprechen seinen Stock in den weichen Waldboden, dass er darin stecken blieb, hielt sich den langen Zeigefinger seiner rechten Hand an die Stirn und murmelte: „Mehr denn zwanzig Jahre studierst du drüber her, wie der Pestilenz wirksam entgegen zu treten wäre und wie auf möglichst einfache Weise Gold fabriziert werden könnte. Umsonst bisher! Und da wird dir beides direkt in die Hand gelegt. Eia! So sei der Versuch gewagt! - Und vorsichtig öffnete er die Flasche.

 

Aus dem Fläschlein stieg vor seinen Augen erst ein schwacher Dunst hervor, der immer dichter und nebeliger wurde, je mehr die nach Spiritus riechende Flüssigkeit in dem Gefäße abnahm. In wenigen Sekunden hielt der in eine undurch-dringliche Nebelwolke gehüllte Theophrastus die leere Flasche in der Hand und sah, wie aus dem dunklen Pünktchen, das von den Nebelfetzen getragen wurde, sich eine menschliche Figur gestaltete, die nach und nach ein ungeheurer Mann wurde.

Dieser forderte den Doktor auf, ihm zu folgen und führte ihn tiefer in den Wald hinein. Über herumliegende Baumleichen führte der Weg, zwischen mächtigen Felsblöcken hindurch, durch wild in einander gewachsenes, fast undurchdringliches Geäste. Bei einem aus dem Erdboden emporragenden starken Bergkristall zeigte der riesenhafte Führer seinem Befreier das verheißene Kraut des Lebens, das er sich in großer Menge pflücken durfte.

Nun wäre es aber dem glücklichen Besitzer des Wunderkrautes am liebsten gewesen, wenn er den unheimlichen Riesen wieder in das Fläschchen hätte bannen können. Er stellte sich deshalb sehr erstaunt über die unmenschliche Körpergröße des Mannes und fragte ihn: „Sage mir, bist du denn wirklich das Wesen, das sich vorher im Glase befand?“

„Ja“, war die kurze Antwort.

„Das scheint mir“, entgegnete Theophrastus, „unmöglich zu sein, wenn ich mir den Umfang deines Leibes und den Inhalt dieses Fläschchens betrachte. Ich kann es nicht glauben, wenn ich den Hergang nicht mit aufmerksamen Augen beobachten kann.“

Auf diese Äußerung des Zweifels fing die Riesengestalt an, sich zu vernebeln und zu verkleinern, bis sie derart zusammen-geschrumpft war, dass sie als helle Flüssigkeit mit einem kleinen Pünktlein mit Leichtigkeit wieder im Fläschchen Platz fand. Nun drückte Theophrastus schleunigst den Stöpsel wieder fest ins Glas und sagte:

„Hast du früher in diesem engen Raume gewohnt, so wird’s dir sicherlich nicht schaden, auch fernerhin darin zu bleiben.“ Mit diesen Worten steckte er die kleine Flasche wieder in den hohlen Baum und entfernte sich.

Beim Fortgehen hörte er die Worte jämmerlich seufzen: „Undank ist der Welt Lohn!“

Theophrastus entgegnete: „Wenn das wahr ist, dann magst du eben bleiben, wo du jetzt bist; finde ich aber das Gegenteil bestätigt, so will ich nicht der einzige Undankbare sein unter den Menschen und schenke dir dann die Freiheit.“

Froh über den Besitz des kostbaren Kräutleins wanderte der Gelehrte aus dem Bereiche des Waldes hinaus. Um den Vorwurf der Undankbarkeit kümmerte er sich nicht im geringsten mehr; andere Gedanken beschäftigten ihn. Er sah sich bereits in einem Meere von Gold schwimmen, seine Phantasie malte ihm unübersehbare Scharen von Kranken, Krüppeln und Breshaften vor, die sogar aus weiter Ferne Hilfe heischend zu ihm kämen, und alle, alle diese Bedauernswerten gingen gesund und frisch wieder von dannen.

 

In solche Gedanken vertieft, kam er an den Rand des großen Waldes, wo er ein mageres Pferd an einem Baume angebunden sah.

„Nun, armes Ross, wie kommst du denn her?“ fragte er das Tier.

Die Mähre sah den Fragenden misstrauisch an und wieherte ihn die Antwort zu: „Undank ist der Welt Lohn! Ich hatte einem hartherzigen Manne die ganze Zeit meines Lebens treu gedient. Nun ich alt geworden bin und meine Kräfte geschwunden sind, wurde ich zum Lohne dafür hier ange-bunden und dem Hungertode preisgegeben.“

Theophrastus ging weiter.

„Dein Urteil ist gefällt,“ sprach er, indem er an den Bewohner in der hohlen Tanne dachte.

Zu Hause vollführte er mit dem Safte des auf so einfache Weise gefundenen Lebenskrautes wahre Wunderkuren an der Menschheit. In allen, auch den schwierigsten Krankheitser-scheinungen, bewährte sich das Kraut des Lebens als probates Heilmittel und in nicht gar langer Zeit war der Ruf des Theophrastus weit über die Grenzen der Stadt, ja sogar über das Land Schlesien gedrungen. Man nannte ihn einfach den Wunderdoktor von Weidenau. Er holte sich, so oft das Kräutlein im Hause verbraucht war, ein neues Bündel aus dem Walde, hielt vor jedem Mitmenschen sein Geheimnis wohlweislich verborgen, so dass überhaupt kein Doktor weit und breit mit Theophrastus auf gleiche Stufe gestellt werden konnte. Alle Krankheiten mussten der Kraft des Waldkrautes weichen; nur gegen den Tod war es ohnmächtig.

Die staunenswerten Erfolge des Weidenauer Doktors erweckten jedoch den Neid der übrigen Ärzte; ja es kam so weit, dass sie ihn vergifteten, und zwar mit einem Gifte, dessen Wirkung durch das Kraut des Lebens nicht vernichtet werden konnte. Langsam aber stetig fühlte Theophrastus seine Lebenskräfte schwinden; er wusste und erkannte, dass sein Hinsterben ein ruchloses Werk seiner neiderfüllten Berufskollegen sei, denen er das Geheimnis seiner Wundererfolge einst nach seinem Tode in einem eigenhändig geschriebenen Buche zu lüften gedacht hatte. Jetzt aber änderte er seine Absicht gründlich.

  

Als er nämlich das Ende seines Lebens vor sich sah, rief er seinen Diener zu sich und sprach: „Ich fühle, dass ich nun bald sterben werde. Höre und achte genau auf meine Worte! Packe alle meine Bücher zusammen, die ich geschrieben habe, und wirf sie in den Fluss, der eben jetzt durch viele Regengüsse hoch angeschwollen ist! Doch verschone kein einziges Buch und behalte auch nichts für dich!“

 

Der Diener ging, schnürte alle Bücher, Schriften und Abhandlungen zu einem großen Ballen zusammen und trug sie fort. Unterwegs jedoch tat’s ihm leid, eine so wichtige Sammlung von seltenen Geheimnissen ins Wasser zu werfen, weshalb er bei sich beschloss, die Bücher für sich zu behalten, um daraus wo möglich Nutzen zu ziehen.

Nach der Rückkehr des Dieners fragte der Sterbenskranke: „Hast du meinen Befehl vollzogen?“

„Ja wohl,“ log dreist der Diener.

„So berichte mir,“ fuhr Theophrastus fort, „was du an dem Wasser wahrgenommen hast!“

„Nichts,“ antwortete der Untergebene.

„Nichts?“ fuhr der Kranke ihn an. „Dann hast du nicht getan, wie ich dir befohlen. Geh und vollziehe meinen Auftrag! Du kannst mich nicht täuschen; aus deinem Berichte werde ich erkennen, ob du die Wahrheit sprichst.“

 

Wenn es denn sein muss, dachte nunmehr der Diener, so will ich gehorchen. Er ging und warf die Bücher in die Flut. Kaum war dies geschehen, so bekam das Wasser an dieser Stelle eine derartig schöne, gelbe Farbe, als ob die einzelnen Tropfen aus eitlem Gold beständen. Verwundert hierüber, begab er sich nach Hause und berichtete seinem Herrn, was er gesehen.

Jetzt war Theophrastus zufrieden und gab seinem Diener noch folgende Weisung: „Sobald ich gestorben sein werde, träufle ein wenig von dem Balsam, den ich dir hier übergebe, auf meinen Leichnam und zerhacke diesen sodann zu lauter Brei! Du musst jedoch bei dieser Arbeit gar genau darauf achten, dass auch nicht das kleinste Stückchen oder Teilchen verloren geht. Bist du mit diesem Dienste fertig geworden, dann schütte den Brei in ein Fass, spünde es zu, so dass keine Luft eindringen kann und verwahre das Fass an einem verborgenen Orte sieben Jahre lang. Wenn die Zeit um ist, kein Tag mehr und keiner weniger, dann öffne das Fass und du wirst ein ganz merkwürdiges Wunder sehen.“

Der Wunderdoktor sprach nicht mehr; er starb.

Der Diener verfuhr mit der Leiche genau so, wie ihm geheißen worden war, denn der letzte Wille seines Herrn war ihm heilig.

Jahre kamen und gingen. Nach langer Zeit, die um so länger zu sein schien, je mehr die Neugier auf das Endwunder zunahm, fiel es dem Diener ein, dass die sieben Jahre vielleicht vergangen sein könnten, und erschrocken darüber, dass es vielleicht schon zu spät sei, eilte er an den verborgenen Ort und begann das Fass zu entspunden.

Gespannt schaute er durch das Spundloch in das Innere des Fasses und sah dort den vollständigen Körper des Theophrastus in kauernder Stellung, jedoch ohne ein Lebens-zeichen. In wenigen Augenblicken aber zerfiel der Körper durch die eindringende Luft zu Staub.

 

Jetzt erst nahm sich der unverlässliche Diener die Mühe, genau die Zeit vom Sterbetage an zu berechnen und siehe, es fehlten noch einige Tage. Dadurch war das Wunder der Wiederauflebung des Theophrastus vereitelt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Butterstein zu Weidenau

 

 

Vor vielen, vielen Jahren lebte ein Mühlenbesitzer in Weidenau, welcher mit seiner Frau, seinen zehn Töchtern und seinem Letztgeborenen, welcher der einzige männliche Spross war, ein recht gottesfürchtiges, sorgenloses und zufriedenes Leben führte. Zwar war die Mühle und die Wohnung nur aus Holzstämmen gezimmert und für die vielköpfige Familie fast zu eng, allein der Müller, der sich bei seiner Arbeit stets von dem Grundsatze: „Geben ist seliger denn nehmen“ leiten ließ, war mit seinem kleinen Besitze völlig zufrieden; denn er brachte ihm soviel ein, dass er mit Weib und Kind ein kummerloses, ja für die damalige Zeit sogar wohlhabendes Dasein hatte. Oft konnte man ihn deshalb auch still vergnügt das Wort murmeln hören: „Klein aber mein.“

Die Leute der Umgebung kannten den redlichen und ehrlichen Sinn des Müllers und brachten ihr Getreide mit Vorliebe zu ihm zum Vermahlen.

Nur selten verstummte daher das muntere Klipp-klapp im Räderwerke; dann nämlich, wenn der Winterfrost das Wasser im Mühlgraben in Kristall verwandelte oder, wenn den Landleuten im Sommer das Getreide zu Ende ging.

Mit der Zeit aber änderten sich die Verhältnisse im Hause des Müllers. Die heranwachsenden und tugendsamen Töchter verheirateten sich alle an brave junge Männer, und nun war die Wohnstube, die sich vor Jahren für die dreizehnköpfige Familie zu eng erwiesen hatte, zu groß und weit für die alternden Eltern und den einzigen Sohn, der nunmehr als stämmiger Bursche im Mühlgeschäfte fleißig mithelfen musste. Der alte Müller ging auch nicht mehr so sorglos umher wie damals, da die Kinder noch klein waren; er merkte nämlich mit Betrübnis, dass sein Sohn sich an dem Getreide verging, das die Leute in die Mühle brachten. Trotz aller Vorstellungen und Mahnungen konnte er nicht zur Ehrlichkeit bewogen werden. Jeden Augenblick, in dem er sich unbeobachtet wähnte, benützte der aus der Art geschlagenen Müllersohn, vom fremden Mehle einen Teil beiseite zu schaffen, um das so erworbene Mehl an Spitzbuben und anderes unehrliches Gelichter zu verkaufen und sich etwas Geld zu verschaffen. Nicht, als ob er die Kunden seines Vaters schädigen oder verkürzen wollte, langte er nach deren Eigentum, sondern weil er am Gelde eine ungewöhnliche Freude hatte.

 

Der Vater sah ein, dass eine Besserung seines Sohnes auf gewöhnliche Weise so gut wie aussichtslos sei und grämte sich darüber so sehr, dass er vor innerem Leid vorzeitig sterben musste.

 

Der habsüchtige und geizige Sohn machte sich über das Hinscheiden seines Vaters erst keine Gewissensbisse; im Gegenteil, er war froh, dass er nunmehr als Erbe, der Besitzer und Herr der Mühle sei und nach eigenen Gutdünken aus dem Geschäfte möglichst großen Nutzen und Vorteil ziehen dürfte.

Wenn zu des Vaters Zeiten gerade die ärmeren Besitzer ihr Getreide zur Weidenauer Mühle mit Vorliebe brachten, weil dort volles Gewicht zurück gegeben und mäßiger Mahllohn gezahlt ward, so blieben sie jetzt bald einer um den anderen aus; denn man merkte von Monat zu Monat immer mehr, dass Eigennutz und Habsucht, nicht aber nur das Wasser die treibenden Kräfte der Mühle seien. Es dauerte gar nicht lange und auch die reicheren Landleute, denen es auf einige Körnlein mehr oder weniger nicht ankam, sahen sich zu wiederholten Male betrogen, was sie natürlich veranlasste, ihr sauer erbautes Gut redlicheren Müllern anzuvertrauen.

 

Dem jungen Müller bereitete das Ausbleiben der Kunden einigen Kummer; denn er hatte in der Stille seine Augen auf die einige Tochter des Gemeindeoberhauptes geworfen, die durch ihre Mutter schon in der Kindheit verzärtelt worden war und jetzt die Rolle einer recht vornehmen und spröden Jungfer spielte. Geld besaß sie zwar nicht, dafür war sie aber eine ausnehmende Schönheit. Wozu brauchte sie auch Geld, so dachte der Müller, da er ja genug davon besaß und das Mühlgeschäft bisher noch täglich den Geldbesitz vergrößerte? Wenn aber die vornehme Braut den immer schwächer werdenden Geschäftsgang  bemerken sollte, wie würde die noch immer Unentschiedene sich zu seinem Bemühungen und Werbungen verhalten?

Diese Ungewissheit, die Gefahr, als verschmähter Freier abge-wiesen zu werden, musste beseitigt werden.

Eines Morgens trat der Müller in das Auszugsstüblein seiner Mutter und teilte ihr mit, dass er heute vormittag um die Hand der heimlich Verehrten bei deren Eltern bitten wollte.

Die erfahrene Frau machte ihrem Sohne berechtigte Vorstellungen, sie riet zur reiflichen Überlegung und etwaigen Änderung der Wahl seiner Lebensgefährtin; allein der Sohn verblieb bei der Beteuerung: die oder keine.

 

„Mein Sorgenkind!“ sagte die Müllerswitwe und erfasste die Rechte ihres Sohnes mit bebenden Händen, „hat dich denn die Liebe zu dieser Maid so blind gemacht, dass du ihre Kleiderpracht und Hoffart nicht mehr siehst? Kann sie sich, das vornehme Stadtjüngerlein, vielleicht in unserem einfachen Mühlhause glücklich und zufrieden fühlen?“

  

„Gut, Mutter,“ entgegnete der Sohn „die Jungfrau ist stolz, ja, aber gerade das Verlangen, sich hervor zu tun und zu glänzen, wird sie hier glücklich machen; denn ich habe, was ihr mangelt: Geld, Geld.“

„Doch nicht so viel, als die unersättliche Hoffart gierig verschlingt.“

„Für den Anfang reicht’s.“

„Und dann --?“

„Dann, nun dann -- muss sie sich bescheiden!“

„Bescheiden? -- Kind! Hoffart und dein zum Teil unehrlich erworbenes Geld in einem Hause! Da kann kein Segen Gottes drinnen wohnen!“

„Und doch, Mutter! - Ich kann ohne sie nicht leben, ich muss heute noch den Versuch wagen.“

Mit diesen Worten stürmte der eigensinnige Sohn aus dem Stüblein und eilte in das Haus des Bürgermeisters. Ohne jede weitere Einleitung trug er dort den Eltern der Braut sein Anliegen vor und bat um die Hand der Tochter. Die Eltern schienen diesen Schritt des reichen Müllers bereits erwartet zu haben, denn sie gaben ohne weiteres ihre Freude über die Werbung kund, machten aber zugleich darauf aufmerksam, dass ihr Töchterlein sich noch nicht klar darüber ist, ob es seine Frau werden solle oder nicht. Am besten wäre es, so meinten die Eltern, wenn er es gleich jetzt zu einem endgültigen Entschluss bewegen würde und in ihrer Anwesenheit über mancherlei Bedenken der Tochter offene Sprache führte.

 

Der Brautwerber erklärte sich dazu bereit. Nun wurde die Braut ins Zimmer gerufen und erfuhr aus dem Munde der Mutter, weshalb der junge Mühlenbesitzer hergekommen wäre.

„Ich die Frau des Müllers werden?“ frug die Schöne gedehnt und blickte dabei den Werber forschend an. „Was kann er mir Besonderes bieten, dass ich ihn den vielen anderen jungen Männern vorziehen sollte, die sich himmlisch beseligt fühlen würden, wenn ich ihnen die Hand zum Lebensbunde reichte?“

„Jungfrau!“ sprach stockend und zaghaft der reiche Müller „ein Herz, ein ganzes, ungeteiltes Herz, das seine Neigung und Liebe einzig und allein für euch bewahrt hat und bewahren will.“

„Ha! und sonst nichts?“

„Alles! Meine Kräfte, mein Sinnen und Denken, mein Arbeiten und Schaffen, ja, wenn’s sein muss, sogar mein Blut und Leben!“

„Und sonst nichts?“

„Alles, was mein ist, es soll in Zukunft auch euch gehören: mein Besitz, mein Geld, meine Mühle, mein Häuschen!“

„Ha, Häuschen, Häuschen! Sehr bezeichnend ausgedrückt. Häuschen! Und das ist’s gerade, über das ich nicht hinauskomme. Ich, die Vielbewunderte, die Vielbegehrte, soll fortan in einem Häuschen wohnen? Nein niemals! - Wenn ich nicht soviel Ge.., wollte sagen, soviel Liebe habt, dass ihr mir ein großes Haus bauen könnt, dann gebe ich einem Vornehmeren meine Hand.“

Der Müller stand betroffen da. Die Geliebte verlangte viel, fast zu viel und dabei ging’s im Geschäfte jetzt so schlecht. Er überlegte, er zweifelte wohl an der Ausführbarkeit der Forderung, doch die Liebe zur Braut ließ ihm auch diese Schwierigkeit noch als überwindbar erscheinen.

„Ich will versuchen, eurem Wunsche nach zu kommen, Jungfrau,“ sprach er, „und werde in den nächsten Tagen Bescheid bringen.“

 

Etwas gedrückt empfahl er sich von seiner stolzen Braut und von den Eltern und trat auf die Gasse. - Nur jetzt mit keinem Menschen zusammen kommen, so dachte er und eilte aus dem Häusergewinkel der Stadt in die freie Natur. Dort begegnete er einem Maurer, der sich mit ihm in ein teilnehmendes Gespräch einließ und alsbald den Grund der Traurigkeit aus dem Müller herausgelockt hatte.

 

„Nun, eurem Kummer kann leicht ein Ende bereitet werden,“ tröstete der unbekannte Maurer, „Wenn ihr selber hierzu bereit seit!“

„In welcher Art?“ fragte neugierig der Müller.

„Ich baue euch eine große und schöne Mühle bis zu dem Tage, den ihr selber bestimmen könnt, und verlange von euch gar nicht viel hierfür. Seid ihr damit einverstanden?“

„Was verlangt ihr für den fertigen Bau?“ forschte der Müller.

„Ihr geht mir dafür bei eurem Tode eure Seele. Ansonsten seid ihr mir nichts weiter schuldig,“ entgegnete der Unbekannte.

Der Mühlenbesitzer stutze ob dieser Antwort, doch siegte die Sucht und das unbändige Verlangen nach der gemauerten Mühle und besonders nach der schönen Braut gar bald über die natürliche Furcht, und leichtfertig versprach er, seine Seele dereinst hinzugeben, doch müsse die Mühle fertig sein, bevor am nächsten Tage der Hahn das erste Mal gekräht habe.

Kaum war diese Vereinbarung getroffen, so verschwand auch der geheimnisvolle Maurer ganz plötzlich. Der Müller stand wieder allein, ohne recht zu wissen, ob er jetzt wach gewesen oder geträumt hätte.

Zu seiner Mutter sprach er bei seiner Rückkehr kein Sterbenswörtchen von der Begegnung mit dem Maurer, weil er befürchtete, sie könnte als wahrhaft fromme Frau durch ihr Gebet das ganze gemachte Übereinkommen vereiteln.

Der Abend brach an. Der finsteren Nacht dunkelste Schleier lagen über der Stadt und ruhelos wälzte sich der Müller auf seinem Lager; die schrecklichsten Bilder verscheuchten jeden tieferen Schlaf von seinem Bette. Auch die brave Mutter fand in ihrem Auszugsstüblein nur wenig Ruhe. War auch ihr Gewissen und ihre Phantasie ganz ruhig, so meinte sie doch, während der ganzen schwarzen Nacht vor ihrem Fensterchen ein beständiges Graben, Kratzen, Pochen und Schieben zu vernehmen. Noch vor Morgengrauen erhob sie sich von ihrem Lager und guckte durch das Fenster nach der Ursache des unheimlichen, nächtlichen Treibens.

Sie erschrak; vor sich sah sie in undeutlichen Umrissen einen neuen mächtigen Bau vollständig unter Dach und Fach, wie von Zauberhand in einer Nacht hingestellt. - „Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen,“ dachte die besorgte Mutter, holte ein wenig Weihwasser herbei und sprengte etwas davon auf das neue Gebäude, indem sie dabei murmelte: „Weichen möge jeder Einfluss des Bösen von diesem Orte, durch die Gewalt dieses geheiligte Wassers!“

Plötzlich ging ein Zittern und Beben der Erde durch die Grundmauern des Wohnhäuschens, als ob es über dem Haupte der alten Frau zusammenstürzen wollte. Der Teufel, er war es nämlich, der den reichen Müller tags vorher in der Gestalt eines Maurers erschienen war, hatte in der Nacht die neue Mühle fertig gebracht bis auf einen großen Stein, der als Unterlage in der Radstube noch fehlte. Diesen holte er in den ersten Morgenstunden nördlich von Weidenau her und kam mit dem ungefähr fünf Meter langen und über einen Meter starken Granitblocke durch die Lüfte gezogen, um so sein Werk zu vollenden. So oft er aber mit seiner Last zum Neubau kam, er musste immer zurück, denn in das inzwischen gesegnete Haus konnte er nicht hinein. So flog er nach wiederholten vergeblichen Versuchen zähneknirschend über dem Ringplatz, da krähte der Hahn und der Stein entfiel dem Teufel mit solcher Wucht, dass ganz Weidenau durch das Beben der Erde aus dem Schlafe gerüttelt wurde.

Da durch den nächtlichen Neubau und durch den am Ringplatz liegenden Stein der unheimliche Pakt des reichen Müllers mit dem Teufel immer mehr ruchbar wurde, die Bewohner Weidenaus daher dem habsüchtigen Besitzer geflissentlich aus dem Wege gingen, zog er es vor, bei Nacht und Nebel zu verschwinden und seinen Besitz sowohl als auch seine stolze Braut im Stiche zu lassen.

Der Stein blieb unverrückt auf dem Ringplatze liegen und war als „Butterstein“ allgemein bekannt und angestaunt, bis er endlich nach Abtragung des alten Rathauses im Jahre 1867, beim Bau des neuen Rathauses zu Säulen verarbeitet und im Portale eingefügt wurde.

 

 

Die Spillalutsche

 

 

Es war doch eine trauliche, schöne Zeit, da Großmutter und Mutter und ihre Nachbarinnen während der kalten Wintermonate um dem Wärme ausstrahlenden Herd mit ihren Spinnrädern  saßen und aus Flachsbüschel lange, lange Fäden spannen, aus denen dauerhafte Leinwand für Hemden und Kleider gewebt wurden. Zwar glich jenes Gewebe mehr einem dünnen Brettchen als einen zarten Schleier, dafür aber war es billiger und konnte oft von zwei Generationen getragen werden. Das Schönste an diesen Spinnabenden war jedoch, dass die emsigen Frauen mit Erzählen verschiedener Geschichtlein und Volksdichtungen gar nicht fertig wurden, was natürlich besonders die aufmerksam lauschende Jugend nicht übel nahm.

 

Allerdings mussten auch die Kinder beim Spinnen fleißig mithelfen und wenn ein solch kleiner Erdenbürger während der Abwesenheit der Mutter lieber mit dem Spielzeug oder mit Essen und Trinken als mit dem Rad und Flachs sich beschäftigte, dann mahnte die gute Mutter zur fleißigen Arbeit mit den Worten:

 

Spennt, Kendla, spennt,

D’ Spellalutsche kemmt,

S’ guckt zu oalla Lächlan rain,

Ebs Straanla watt baale fertich sain.

 

Gewöhnlich hatte eine derartige Mahnung ihren sicheren Erfolg; denn die Kleinen fürchteten die Spillalutsche, deren Gestalt und Aussehen sie sich gar nicht anders vorstellen konnten, als einen bösen Geist der Hölle.

Nun lebte dereinst auch in Weidenau eine unvernünftige Frau, die ihren Töchterchen den Auftrag gegeben hatte, während des Tages eine bestimmte Anzahl von Strähnen oder Garngebinden zu spinnen. Zu einem Garngebinde gehörten zwanzig Fäden von je vier Ellen Länge. Leider war das arme Kind bis zum Abend damit nicht fertig geworden. Müde und schläfrig schlossen sich ihre Augen, obwohl es die Mutter immer wieder durch Schelten und Rufen zur Vollendung der anbefohlenen Zahl antrieb.

 

Schon war es so spät geworden, dass die Eltern und übrigen Geschwister des säumigen Mädchens zur nächtlichen Ruhe gingen; dem armen Kinde jedoch befahl die Mutter im harten Tone, so lange bei seiner Arbeit zu bleiben, bis es seine Aufgabe bis zum letzten Fadenzipfelchen vollendet hätte. Dabei drohte sie ihm, dass die Spillalutsche kommen würde, wenn es sich nicht mit der Arbeit beeile.

Mit Furcht und Zittern, mit tränenden Augen, setzte sich das Kind, nachdem alle anderen in die Schlafkammer gegangen waren, zum Spinnrade.

Da wurde plötzlich die Tür der Stube aufgemacht, und ein Ding, das wie ein Pelzärmel aussah, kam auf dem Fußboden daher und rollte einige Male in der Stube hin und her. Dabei seufzte es die Worte:

 

„Verzage nicht, verzage nicht!

Warum spinnst du die Zahl am Tage nicht?“

 

Am nächsten Morgen trat die geschäftige Mutter zeitig in die Spinnstube und fand ihr Kind noch immer beim Spinnrade sitzend vor. Der Schrecken vor der Spillalutsche hatte es getötet.

 

 

 

 

 

 

Die Katze vom Schlosse Gilgenheimb.

 

Zu der Lehenvogtei, die seinerzeit die Ritter von Gilgenheimb besaßen, wird unter anderem auch das Schloss Weidenau gerechnet, das noch gegenwärtig nach den letzten Besitzern den Namen „Gilgenheimb“ führt. In diesem Gebäude wohnte vor mehr als dreihundert Jahren ein ehrlicher und herzensguter Förster mit seiner ihm erst vor Kürze ange-trauten Frau im gewissenhaften Dienste seiner Herrschaft. Zu seiner aufrichtigen Besorgnis hatte er wahrnehmen müssen, dass in den letzten Monaten viele seiner Forstgehilfen ganz unerwartet und unerklärlich während des Dienstes ums Leben kamen, ganz besonders, wenn sie in einem bestimmten Revier nächtliche Dienstwege zu machen hatten. Diese Wahrneh-mungen drückte den guten Förster gar sehr, so dass er trotz seiner jungen Lebensjahre nur selten herzlich lachte, vielmehr sich mit dem ernstlichen Gedanken trug, bei einer anderen Herrschaft um eine forstwirtschaftliche Anstellung anzu-suchen.

 

Eben saß der Förster wieder nachdenklich in seinem kleinen Amtsstübchen, als vor der Tür irgend jemand durch kurzes aber entschiedenes Pochen Einlass begehrte. Der Forstbeamte fuhr erschreckt vom Sitze und öffnete die Tür, um den Klopfenden in den Amtsraum zu führen. Ein schmucker Jungjäger, schlank gewachsen wie eine gesunde Tanne, stand vor der Tür und grüßte mit tiefer Verbeugung den Förster.

„Nur weiter, nur weiter, junger Freund!“ rief der Förster dem Fremden aufmunternd zu. „Was ist denn der Grund eures Besuches?“

„Herr Förster!“ entgegnete der junge Mann, „ich möchte euch schön bitten, mich als Weidburschen bei euch aufzunehmen. Ich habe mich als solcher bei mancher Herrschaft versucht, möchte aber hier eine bleibende Anstellung haben und kann euch versichern, dass ihr es niemals werdet bereuen brauchen, mich aufgenommen zu haben. Arbeitslust steckt in meinem Blut von meinen seligen Eltern her und Pflichterfüllung und Redlichkeit sind mir zur anderen Natur geworden. Bitt’ euch also recht innig, mich nicht von da fort zu weisen, sonders wenigstens für eine Probezeit zu behalten!“

„Junger Mann!“ hub abermals der Förster an, „ich glaube ja recht gern euren Worten, denn euer offenes Gesicht gibt mir Bürgschaft, dass ihr kein Prahler oder Spitzbube seid. Ihr seid ein strammer, kräftiger Bursch, der viel zu Nutz und Frommen irgend einer Herrschaft leisten könnte; ja, - aber gerade eure zu erhoffende vielseitige Verwendbarkeit und Brauchbarkeit flößt mir Besorgnis und Unentschiedenheit ein.“

„Besorgnis? - Herr Förster, ihr setzet also irgend einen Zweifel in mich?“ kam es gedehnt aus des jungen Jägers Munde.

„Ach, bei Gott, nicht in euch; nein, nein! Ich denke bloß es wäre doch gewisslich sehr zu bedauern, wenn ihr, junger, hoffnungsvoller Mann, in meinen Diensten bald das Leben verlieren solltet.“

„Das Leben verlieren? - Ich? - Bald?“

Der Förster stöhnte auf. Der geheimnisvolle Tod einiger seiner Weidburschen aus der letzten Zeit drückte neuerdings zentnerschwer auf seine empfindsame Seele. Unschlüssig, mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen schritt er im Zimmer einige Mal auf und ab, ohne dem Jüngling auf seine Fragen eine Antwort zu geben. Endlich stellte er sich vor ihn hin, legte väterlich besorgt seine Rechte auf dessen Schultern und sagte: „Über unseren Forsten schwebt ein eigenartiges Verhängnis, guter Junge. Ihr müsst doch aus euerem bisherigen Jägerleben wissen, dass wir Waldbewohner bei dringenden Arbeiten im grünen Revier oft froh sind, abends erst nicht nach Hause gehen zu müssen, besonders, wenn wir zeitig früh wieder am Platze sein wollen und dass wir in solchen Fällen gar zu gern in unserem zweiten Heim, im Walde übernachten. So sind denn auch bei uns an verschiedenen Stellen der Wälder Bauden errichtet, in denen die Jäger im Bedarfsfalle übernachten können. Und sonder-bar, aus einer dieser Bauden, die just am behaglichsten eingerichtet ist, hat noch kein neu aufgenommener Forstgehilfe so viele es deren auch gab, den Weg nach Weidenau gefunden.“

„Ja, was geschah denn mit ihnen?“

„Das kann ich selber nicht sagen; ich weiß nur, dass sie dort regelmäßig ums Leben kamen, ohne dass man irgend eine Spur von Stich, Schlag oder Schuss an ihnen finden konnte. Die älteren Forstleute übernachten deshalb nicht mehr in dieser Baude; allein die wagemutigen und tollkühnen Jungjäger! Ja, die! Die lassen sich gar nichts einreden und wollen allemal klüger sein als wir und müssen dann immer ihren Ungehorsam mit dem Leben bezahlen. Ja, mein lieber Junge, dasselbe Missgeschick befürchte ich bei euch, weshalb ich euch den wohlgemeinten Rat gebe, wo anders euere Dienste anzubieten.“

„Ach, Förster! Und wenn ich einmal ausnahmsweise nicht klüger sein wollte, als ihr seid, würdet ihr mich dann vielleicht aufnehmen?“

„Wenn ihr mir das versprecht, will ich mit euch einen Versuch machen. Gut, ich behalte euch, aber Junge, Junge! Wort halten!“

Am folgenden Tage begab sich der Förster mit dem neuen Weidburschen in den Wald, führte ihn in die einzelnen Teile des Reviers ein, belehrte ihn über verschiedene Dinge, die einem Neuling eben bald gesagt werden müssen und geleitete ihn schließlich zur nicht ganz geheueren Baude. Hier traten sie ein; der Förster zuerst, mit einem gemischten Gefühle von Grauen und Trauer, der Weidbursche als zweiter mit Neugier und Mut.

„Na, gar so schrecklich schaut’s hier nicht aus,“ meinte der Bursche, indem er die Baude musterte. „Der Ofen da könnte einen ganz guten Imbiss bereiten helfen. Und auf dieser Ofenstange ließen sich leicht etwas durchnässte Kleider trocknen. Die Ofenbank und der Tisch sind auch nicht überflüssig und.....

„Alles wahr, Junge,“ unterbrach ihn der Förster. „Alles recht gut, jedoch nur während des Tages; bei Nacht aber bringt diese Baude den Besuchern den Tod. - Denket an euer Versprechen!“

Der Weidbursche widersprach nicht, folgte vielmehr willig dem Vorgesetzten aus dem Bretterhäuschen, um im Revier den Orientierungsgang weiter fortzusetzen. In all die neuen Bilder aber, die der Weg durch die Natur ihm vor die Seele führte, drängte sich immer wieder die Erinnerung an die Baude und deren Einrichtung; sie waren einfach aus dem Gedächtnisse, aus der jugendlichen Phantasie nicht mehr zu verwischen, als ob das verhängnisvolle Geschick sein loses Spiel mit dem neuen Jungjäger schon begonnen hätte.

 

Tage und Wochen waren seither vergangen, Beschäftigungen und Dienste der verschiedensten Art wechselten in rascher Folge; gewaltsam mühte sich der Bursche, die Waldbaude zu vergessen; er war umsonst: der verpönte Ort stand um so reizender und verlockender vor seinem Geiste. Ein heißer innerer Kampf zwischen Neugier und Verbot entbrannte, der um so größer und heftiger wurde, je länger er währte. Sollte er wirklich so feig und verzagt sein, dass er sich von einer leblosen Bretterbaude fern hielt? Und wenn wirklich des Nachts ein unbekannter Feind dort auf ihn lauerte, hatte er nicht genügend Kraft und Geschmeidigkeit in seinen Gliedern, des Gegners Herr werden zu können? Doch wie, sollte er sein Wort brechen, das er seinem Vorgesetzten gegeben? Welches Versprechen hatte er denn gemacht? Vielleicht die Zusage, die Baude niemals in der Nacht zu betreten? Nein, so lauteten doch seine Worte nicht. Er wollte ja nur nicht klüger sein als der Förster. Und wenn er in die Baude ginge, wäre das wirklich ein ausschlaggebender Beweis für seine besondere Klugheit? Wozu also erst lange überlegen und grübeln?

 

Eines Nachmittags begab sich der unerschrockene Weid-bursche in jenes Revier, in dem die rätselhafte Baude stand, um daselbst das nächtliche Abenteuer zu bestehen. Es dunkelte bereits, als er die Bretterhütte betrat. Schnell ver-riegelte er von drinnen die Tür, durchsuchte das Häuschen vom Giebel bis zu unterst, musterte aufmerksam alle Winkel-chen und Ecken, ob nicht etwas Verdächtiges hier aufzu-stöbern sei, machte im Ofen ein Feuer an, um durch Rauch und Glut aus dem Ofen zu verscheuchen, was allenfalls zu vertreiben wäre, ließ sich dann mit dem sicheren Bewusstsein, dass nichts Ungehöriges anwesend sei, zwischen Tisch und Ofen auf eine Bank nieder und harte der Dinge, die da Kommen sollten. Ein geladenes Gewehr und einen Hirsch-fänger legte er vor sich auf den Tisch und meinte, damit auf jeden ernstlichen Angriff vorbereitet zu sein. Die Nacht kam; mit der Nacht die Finsternis.

Der junge Mann steckte einen Kienspan in Brand, einen zweiten, dritten...,einen zehnten. Die Nacht musste schon ziemlich weit vorgerückt sein, denn dem nächtlichen Abenteurer fielen, trotz der aufregenden Erwartung langsam die Augenlider zu. Er stützte sein schläfriges Haupt leicht in die offenen Hand und versuchte, mit den Fingern den Schlaf aus den Augen zu reiben. Im Kienspanhalter verknistert ein kurzer Rest des Lichtspenders. Ein neuer Span, wohl schon der fünfundzwanzigste wird an dessen Stelle gesetzt. Da wird ganz plötzlich die einschläfernde nächtliche Stille unter-brochen.

 

Miau, miau - dringt’s von draußen an das Burschen Ohr. Eine große Katze hat einen Sprung auf das Baudenfensterchen gemacht und bittet durch immer lauteres, immer jämmerlicheres Miauen um Einlass. Der Jagdbursche fühlt Mitleid mit dem vierbeinigen nächtlichen Gast, erhebt sich von seinem Sitze, öffnet das Fenster und lässt ihn herein.

Kaum ist die große Katze mit gewaltigem Satze hereinge-sprungen, so folgen ihr alsbald ein Dutzend andere nach. Und sie alle scheinen hier ziemlich heimisch zu sein, denn sie nehmen einen Weg so haarscharf, als ob er ihnen schon in Fleisch und Blut übergegangen wäre. Vom Fenster zum Boden, vom Boden auf die Bank, von der Bank auf den Tisch, vom Tisch auf den Ofen, von da auf die Ofenstange. Jeder Sprung ist so geschickt und gewandt, als ob die Kätzlein die besten Turnkünstler der Welt wären.

 

Nach einer kurzen Weile hub die größte Katze zu reden an und sprach: „Fangen wir bald an?“ Ohne erst eine Antwort abzuwarten, sprang sie von der Ofenstange auf den Herd und nun sprangen auch die übrigen Tiere dahin und begannen, einen regelrechten Tanz aufzuführen. Doch der Ofen dürfte wohl zu einem Tanzboden nicht recht geeignet gewesen sein, denn gar bald wurde der Tanz auf dem Fußboden fortgesetzt. Immer wilder, immer rasender wurden die Bewegungen, immer schriller wurde das Miauen, immer ohrenbetäubender die taktlose Katzenmusik.

 

Der Weidbursche wusste nicht, was er von dem ungewohnten Schauspiel halten sollte und beschloss, die tolle Katzenge-sellschaft nicht aus dem Auge zu lassen. Ruhig und gefasst setzte er sich deshalb auf die Ofenbank, ergriff mit der Rechten den vorbereiteten Hirschfänger, mit der Linken das Gewehr, um im Augenblicke einer ernstlichen Gefahr sich verteidigen zu können. Fast bedauerte er schon, der Stimme des Mitleides Folge geleistet zu haben.

Mitten im Tanze machte auf einmal die große Katze einen kühnen Sprung auf den Tisch, an dem der junge Mann saß und fauchte den Jäger an. Heda, Katzerl, dachte dieser, du scheinst aus deiner Rolle zu fallen und die tanzende Lustbarkeit mit katzenhafter Bosheit und Tücke vertauschen zu wollen. Nun wir wollens abwarten. Furchtlos aber ent-scheiden sah er seinem Gegenüber in die grauen Katzen-augen, was dem Vieh derart auf die Nerven ging, dass es vom Fauchen bald abließ und wie ein frommes Lamm sich auf die Tischplatte setzte. Der Scheinfriede dauerte jedoch nicht lange; denn als die Katze merkte, dass der Jäger keinen Augenblick seine scharfe Beobachtung aufgebe, stellte sie sich auf alle vier Beine, machte einen steilkrummen Buckel und schlug mit der einen Pfote nach ihrem Beobachter.

 

Jetzt erhob der furchtlose Jäger den Hirschfänger und schlug damit dem heimtückischen Tiere eine Pfote ab.

 

Unter kläglichem Geschrei und Gewinsel sprang die verstümmelte Katze durch das noch immer offen stehende Fenster hinaus. Der Tanz der übrigen Katzen hatte ein schnelles Ende gefunden, denn diese jagten eben so schnell, wie sie herein gekommen waren, davon und ließen den Abenteurer allein in der Baude zurück.

 

Der Junge schloss das Fenster und wartete halb wachend, halb träumend den Morgen ab. Als das Morgengrau zwischen die Bäume hindurch in die Baude drang, steckte er den Hirschfänger zu sich, warf das Gewehr um die Schulter, barg die auf dem Tisch liegende Katzenpfote in ein Tüchlein und machte sich siegesfroh auf den Heimweg.

 

Mit einem triumphierenden: Gott gebe euch einen gedeih-lichen Morgen, betrat der Jägerbursche die Wohnung seines Försters. Unwillkürlich musste dessen ungewohnt fröhliches Gebaren dem Vorgesetzten auffallen, so dass dieser mit einer gewissen Neugier fragte: „Nanu, Junge, entweder habt ihr einen wunderschönen Traum gehabt oder ihr habt einen Prachtkerl von einem Hirsche das Lebenslicht ausgeblasen?“

 

„Keines von beiden, Förster!“ antwortete der Bursche.

„Was ist denn sonst vorgefallen?“

„Einer Katze habe ich eine Pfote abgehauen.“

„Das ist aber doch kein Jägerstück, kein Grund zur Freude!“

 

„Ich tat’s aber in - gestern - vielleicht heute - Förster ich - - vergebet - ich war ungehorsam -- wollte klüger sein - ich war -.“

 

„Um Gottes willen, ihr waret doch nicht diese Nacht in der schrecklichen Baude?“ unterbrach der ältere Weidmann.

 

„Ja, Förster, ich war in der Baude und bringe vom nächtlichen Abenteuer ein kleines Andenken mit.“

 

Nun erzählte der Bursche mit jugendlicher Lebhaftigkeit alles, war er draußen im Walde erlebt hatte und holte schließlich das Tüchlein mit der Katzenpfote aus der Tasche hervor, um den Förster, der während der Schilderung öfters ungläubig den Kopf geschüttelt hatte, von der Wahrheit des Berichtes zu überzeugen. Doch wie erstaunte er mitsam seinem Herrn, als sie in dem Tuche nicht eine Katzenpfote, sondern eine rechte Frauenhand fanden, die an einem Finger einen goldenen Ring trug.

Der fromme Förster bekreuzigte sich, denn es wurde ihm klar, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugehe. Entweder war der Weidbursche mit dem Teufel im Bunde, so dachte er, oder die Katze in der Baude. Unschlüssig, was er beginnen sollte, begab er sich zunächst zu seiner Frau, um ihr die unheimliche Begebenheit mitzuteilen; den Burschen nahm er als Hauptzeugen mit. Die Försterin lag aber, obwohl der Morgen schon weit vorgerückt war, noch immer zu Bette, denn eine Krankheit war ganz unerwartet über sie ge-kommen. Sie hörte den Ausführungen ihres Mannes mit Auf-merksamkeit zu und zeigte besonderes Mitleid mit dem Schicksal der verstümmelten Katze; doch als sie gefragt wurde, was ihr eigentlich fehle, gab sie keine bestimmte Antwort, sondern suchte durch verschiedene Übelkeiten ihr Verbleiben im Bette zu rechtfertigen.

 

Da schöpfte der Weidbursche begründeten Verdacht, besuchte dann später ohne den Förster noch einmal die Kranke, bezeigte ihr sein aufrichtiges Mitleid und brachte mit vieler List endlich heraus, dass ihr die rechte Hand fehle.

 

Bald wurde auch dem Gatten die eigentliche Krankheit seiner Frau bekannt, und als er daraufhin nochmals die durch den jungen Jäger aus der Waldbaude mitgebrachte Hand genauer besah, erschrak er entsetzlich, denn er erkannte in ihr die Hand seiner Frau und merkte, dass er eine Hexe zum Weibe habe, die ihm alle früheren Weidburschen umgebracht hatte. Sie wurde dem Gerichte ausgeliefert und er verdienten Strafe zugeführt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Beim Lohteiche

 

 

Zieht man im Glanz der Sommersonne von Weidenau aus flussaufwärts durch sandige Wege, über steinige Fußsteige, über mäßige Höhen und dann wieder zeitweise längs schmaler Feldraine, so gelangt man nach ungefähr halb-stündiger Wanderung in das anmutige Jüppeltal, durch das sich ein klarer Bergbach, der Jüppel, hindurchschlängelt. Stellenweise fließt das Wasser schön ruhig und langsam, als ob es müde wäre, dann aber gurgelt und sprudelt und sprüht es und singt, wie wenn es den lauschenden Wanderer bewegen wollte, weiter, nur weiter zu gehen, wie wenn es erzählen wollte, dass dort oben, wo das Jüppelbett noch enger und schmäler sei, ein behäbiger Vetter und Nachbar beständig der Ruhe pflege, der wohl gerne Menschen an sich herankommen lasse, niemals jedoch selber unter Menschen gehe: der Loh-teich, der Stammsitz der Wassermänner und der Wasser-jungfern.

 

Diese Wasserwesen mussten nach der Vorstellung des erzählenden Volkes etwas recht niedliches und possierliches gewesen sein und fast müssen wir Gegenwartsmenschen bedauern, nicht um einige Jahrhunderte, oder wenigstens um etliche Jahrzehnte früher gelebt zu haben; vielleicht hätten wir dann ein solches Dingerl zu Gesicht bekommen. Oder....?

 

Man erzählte, dass die Wassermänner mit ihren Familien besonders in Teichen ein patriarchisches Leben geführt hätten und nichts anderes gewesen seien als Nachkömmlinge der verflossenen Engel, die anstatt in die Hölle in das Wasser gesprungen seien. Sie waren meist von zierlicher Gestalt, den Menschen fast ganz gleich. Nur am Gewande erkannte man sie, denn dieses hatte regelmäßig einen ungefähr fünf Zentimeter breiten, nassen Saum. Der Älteste trug als Zeichen seiner Würde einen grünen Rock, ein gelbes Beinkleid und auf dem Kopf ein rotes Käppchen mit schilfgrüner Verbrämung.

Mit den Bewohnern der Umgebung standen sie oft im Verkehr, da sie bei diesen Brot, Fleisch und andere Nahrungsmittel einkauften und auch an deren Belustigungen und besonders an Tanzunterhaltungen recht häufig sich beteiligten. Den gutmütigen Menschen waren sie gewogen, wer aber etwas Boshaftes gegen sie im Schilde führte, der musste alsbald seine Bosheit mit dem Ertrinken büßen.

 

Zu einer Zeit, da der Lohteich noch mehr einem kleinen See und nicht, wie es jetzt der Fall ist, einem großen Sumpfe ähnelte, kam eine große Gesellschaft meist jüngerer Leute in der Nähe des Teiches zusammen, um hier den Sonntag-nachmittag im gemütlichen Beisammensein zu verbringen und den Körper durch mäßige Bewegung in der würzigen Waldesluft für die kommende schwere Wochentagsarbeit zu stählen. Unter Scherzen und Lachen vergingen die Nach-mittagsstunden wie im Fluge, und ehe man sich’s versah, war der mondhelle Abend da.

Die Pracht der Mondlandschaft, der in tausend und tausend Lichtwellchen blinkende Spiegel des Teiches, das laue Wehen des Abendlüftchens, das geheimnisvolle Murmeln des kleinen Bächleins und nicht zuletzt auch das Sehnsuchtsflöten einer Nachtigall, ließen in allen den Wunsch aufsteigen, noch länger hier diese seltenen Naturschönheiten zu genießen.

 

Der Wunsch wurde verwirklicht. Eine Harfe und eine Flöte ließen in der abendlichen Stille muntere Weisen ertönen und schreckten die schlafenden Vöglein im nahen Dickicht auf. Selbst Frau Nachtigall hielt erschrocken in ihrem Gesange ein.

 

Auf einen nicht gar großen freien Platze, der nur mit spärlichem Grase bewachsen war, drehten sich einige Paare im fröhlichen Tanze nach dem Rhythmus der Musik. Es war ein ungezwungenes und harmloses Treiben, an dem sich die jungen Menschenkinder ergötzten.

 

Doch nicht alle nahmen an dem Reigen teil. Ein armer Schuhmachermeister aus Weidenau, der mit seinen Kindern auch anwesend war, fand keinen Gefallen daran, denn die Not war seine getreue und unzertrennliche Gefährtin und ließ ihn nur selten herzlich lachen. Zudem war er auch nicht mehr einer der Jüngsten, sondern Familienvater mehrerer, zum Teil fast erwachsener Kinder; und diese musste er selbst betreuen, da seine Frau von ihm im Tode Abschied nahm, just als im letzten Frühjahr alles zu neuem Leben erwachte. Was hätte er auch als gedrückter Mann in der jubelnden und hüpfenden Menge tun sollen? Er wäre schon durch seine Erscheinung die lebendige Disharmonie in der freude-schwellenden Symphonie der Jugend gewesen.

 

Der biedere Meister stahl sich deshalb unbemerkt abseits. Am Ufer des Teiches suchte er sich im niedrigen Randgestrüppe ein Ruheplätzchen. Hier wollte er seinen stillen Erinnerungen an sein liebes Weib nachgehen; hier gedachte er zu warten, bis die Gesellschaft sich trennen und heimwärts ziehen würde.

 

Wie wunderschön heute der Mond in der Wasserscheibe sich spiegelte! Wollte er etwa erschauen, welch ein Leben im nassen Elemente sich abspiele?

 

„Vater, du hier? So ganz allein? fragte gedämpft eine klang-volle Jünglingsstimme plötzlich neben ihm.

 

„Karl, du bist’s?“ entgegnete der Gefragte. „Kommst du denn allein mir nach? Wo sind die anderen, deine jüngeren Geschwister?“

 

„Die sind unter den Tanzenden; die anderen, die Kleinen schauen dem Tanze wenigstens zu. Mir ist der überfröhliche Jubel etwas Peinigendes, wenigstens jetzt, in diesen Augen-blicken, zumal da ich noch niemals im Leben mit einem weiblichen Wesen getanzt habe. An deiner Seite finde ich mehr Vergnügen und Freude.“

 

„Ein guter, zärtlicher Sohn fürwahr, trotz deiner zweiund-zwanzig Jahre!“ sprach der Vater und bedeutete dem Jüngling, sich neben ihm am Boden niederzulassen.

Und nun begann der Alte im ruhigen Ton zu erzählen, von den oft recht gütigen Bewohnern des Lohteiches, von den Wassermännern und -frauen, von ihren Gewohnheiten und Eigenschaften, wie des öfteren die Grasfläche um den Teich herum mit Wäschestücken bedeckt gefunden wurde, die vom Wasservolke daselbst zum Bleichen und Trocknen ausgebreitet worden waren, und von manch anderem.

  

Wieder zitterten die Saiten der Harfe, wieder ertönten die Klänge der Flöte zu neuem Reigen. Der Erzähler unterbrach seinen Bericht; er lauschte mit seinem Sohne. Die Musik tat ihm Wohl.

 

„Karl!“ rief ganz unvermittelt der Vater und packte mit der einen Hand den Sohn beim Arme, während er mit der anderen Hand auf den kargen Schilfbestand im Teiche hinwies.

„Vater!“ hauchte der Sohn und sonst nichts mehr. Starr blickte er nach dem Schilfe.

 

Ein Kopf ward dort sichtbar über der Oberfläche des Wassers. Ein schöner Mädchenkopf, wie aus Marmor gemeißelt. Üppiges, frei über den Oberkörper wallendes Haar, bestrahlt vom Silberlicht des Mondes, ließen das zarte Gesicht nur noch bezaubernder erscheinen. So schwamm das unbekannte Wesen, mit ihren alabasternen Armen das Wasser teilend, auf die zwei Männer zu, und nun entstieg dem Teiche eine Jungfrau im wallenden, bis an die Knöchel reichenden, smaragdenen Gewande, schaute dem entsetzten Jüngling treuherzig und bezaubernd in die Augen, winkte ihm zu, dass er ihr folgen möge, und ging leichten Fußes auf die Tanzenden zu.

 

Karl wusste nicht, wie ihm plötzlich geschah. Er musste den Vater allein lassen und dem holden Wesen folgen. Am Tanzplatze angekommen, fasste die Bezaubernde Karl an der Hand und Schwang sich mit ihm im Kreise herum, so leicht und lustig, als ob sie den Boden nicht berührte. Dabei flüsterte sie ihrem Tänzer die Worte zu: „Weil du noch mit keinem Weibe getanzt hast, deshalb darf ich mit dir mich vergnügen; nur der Reine ist für mich gut genug.“

 

Dem Karl schwand während des Tanzes mit dem anmutigen Mädchen die ruhe Überlegung. Nur all zu früh verstummten für beide Harfe und Flöte. Im gleichen Augenblick entwand sich die seltsame Tänzerin den Armen des Jünglings und verschwand hinter einem Gesträuch am Teichesrand; aber diesmal an einer ganz anderen Stelle, als da sie dem Wasser entstiegen war.

 

Karl stand wie betäubt. So eigen war’s dem Jüngling um das Herz. Er fühlte es höher schlagen im bisher ungeahnten süßen Glück und hätte doch bei all dieses Wonne weinen mögen, weil sie, die Bringerin der inneren Glückseligkeit, nicht mehr da war. Unsichtbar, jedoch deutlich fühlbare Wellen der Sehnsucht und des Verlangens hüpften in rasender Schnelle aus seiner stürmenden Seele gegen den Strauch, hinter dem die jugendliche Schönheit seinem trunkenen Auge ent-schwunden war. - Und er merkte nicht, dass die Gesellschaft nach Beendigung des Tanzes lustig lachend heimgekehrt, dass es rings um ihn stille geworden, dass er in vorgerückter nächtlicher Stunde allein beim Lohteiche war.

 

Allein? Sollte er wirklich ganz allein hier sein? Und die holde Unbekannte? - - Er ging auf den Strauch zu; hastig, mit klopfendem Herzen, mit wonnevoll schmerzender Sehnsucht. - - - Und wieder schwebte sie ihm entgegen, wieder rann ihr reiches, welliges Haar aufgelöst über das zartgrüne Gewand, wieder blickte sie so unschuldig, so keusch in des Jünglings glühende Auge, lang, tief und flüsterte: „Der Tanz der Menschenkinder und besonders deine Anwesenheit haben mich, die Tochter des Wasserkönigs dieses Teiches, hinaus-gelockt aus dem Bereich unserer Wohnung, in der gerade jetzt ein großes Fest gefeiert wird. Du hast mich, reiner Jüngling soeben so namenlos glücklich gemacht an deiner Seite, und ich will dir dafür dankbar sein. Komm, steige ,mit mir hinab ins Reich meines Vaters, wir wollen zusammen noch länger glücklich sein.“

Und die Wasserjungfer nahm eine Weidenrute und schlug mit ihr auf das Teichwasser. Er teile sich dort und eine Stiege zeigte sich, auf der beide hinabstiegen. Ein herrlicher Garten mit wohlgepflegten Gängen umfing sie; weite Rasenflächen breiteten sich aus. Unzählbare Ziersträucher und Frucht-bäume, letztere mit würzigen und vielfach noch nie geschauten Früchten behangen, gaben dem Ganzen ein feenhaftes und paradiesisches Gepräge.

Längere Zeit waren die Wasserjungfer und Karl, der mit einem Male auch ein Gewand mit einem drei Finger breiten, nassen Saum trug, auf den mit weißem Wassersand bedeckten Parkwegen selbander gewandelt, da kamen sie zu einem riefigen Palaste, aus eitel weißem Gestein gebaut. Das Portal war aus klarem Bergkristall, und gewaltig hohe Torfenster gewährten einen Einblick ins Innere.

 

Karl streckte die Hand aus, um auf Wunsch der Begleiterin das Tor zu öffnen, doch dieses tat sich von selber auf. Den langen, reinlichst gehaltenen Gang durchschreitend kam er in den Saal des Palastes, in dem er ganz geblendet stehen blieb. Ein massiver Leuchter, aus Tropfsteinen kunstvoll gebildet, hing von der hohen Decke herab. Hunderte, ja Tausende kleiner Lämpchen aus Muscheln jeder Art strahlten in winzigen Flämmchen helles Licht in den Raum aus und ließen ihn wie ein Märchenland erscheinen. An der Decke waren Ornamente in Halbrelief aus reinstem Silber und Gold, ebenso wanden sich an den Wänden, unterhalb der Decke, von einer Ecke zur anderen schwere Gewinde aus lauterem Golde. Die Wände selbst waren von oben bis zum Boden mit Perlmutterschalen und -plättchen ausgelegt, die das gleißende Licht wie eine große Spiegelscheibe auffingen und wieder zurückwarfen und bei diesem tollen Spiel in allen nur erdenklichen Farben schillerten. Zwischen den Perlmutter-plättchen an den Wänden guckten größere und kleinere Mosaikbildchen hervor, die aus den verschiedenfarbigsten Flügeln und Körperchen der Wasserlibellen zusammengesetzt waren; und als endlich Karl, von all der gesehenen Pracht und Herrlichkeit müde und geblendet, seine Augen zu Boden senkte, da erschrak er direkt, denn er bemerkte, dass er von da aus durch Millionen von Augen beobachtet sei.  Eine Unmenge von Fischaugen in den buntesten Farben lagen dicht neben einander und bildeten den Fußbodenbelag des großen Saales.

 

Die Bänke und Stühle waren aus Schilf gefertigt, die einzelnen Schilfröhrchen mit einander durch goldene Nägel und silberne Spangen verbunden. In der Mitte des Saales stand ein langer Tisch aus weißem Marmor.

 

Karl kam aus der Verblüffung nicht heraus. Sein sterbliches Auge, das im Elternhause nur Not und Elend gesehen hatte, konnte all die märchenhafte Schönheit nicht fassen und entsprechend schätzen. Die holde Wasserjungfer weidete sich bass an dem kindlichen Staunen des Jünglings.

 

Da ertönte leise Musik, wie aus der fernsten Ferne kommend. Eine Tür wurde geöffnet und herein kamen paarweise kleine Mädchen in weißen, dünnen Gewändern, mit duftigen Blumenkränzen im Haare. Aus zierlichen Binsenkörbchen streuten sie Seerosen auf den Boden. Hinter den Mädchen-paaren schritten ein junges Brautpaar herein, beide in hellgrüner Gewandung, und diesem Paare folgten viele, viele Hochzeitsgäste aus der Gilde der Wassermänner. Den letzten Gästen schlossen sich die Wasserjungfer und Karl an.

 

Man setzte sich zu Tische, zum Hochzeitsmahle.

 

Auf großen Muscheln wurden Karpfen-, Hecht- und Aalge-richte herumgereicht und von Bergkristall-Tellern verzehrt. In einem Becken aus Marmor sprudelte helles Bergwasser, das als Tischtrunk diente. Man würzte die Speise mit Geplauder, Scherz und Lachen, so dass Karl an der Seite seiner wunder-schönen Tischgenossin alle Befangenheit und Scheu vergaß und in den allgemeinen und ungezwungenen Jubel hinein-gezogen ward.

Nun sollte die Hochzeitstafel aufgehoben werden. Auf einen Wink des Ältesten kamen einige Musikanten in den Saal und ließen lockende Weisen ertönen. Da stand alles auf vom Tische, und die Pärchen drehten sich fröhlich tanzend im Kreise. So dauerte dieses muntere Treiben bis zum Morgen-grauen, so dass jung und alt müde ward und sich zur Ruhe begab.

 

Auch Karl war ruhebedürftig geworden, deshalb führte ihn die Wasserjungfer aus dem Palaste durch den Park, pflückte eine seltsame Frucht vom Baume, dann gingen sie wieder weiter, bis auf ihren Befehl sich abermals das Wasser des Lohteiches teilte und die Marmorstiege sichtbar wurde, die sie an das Ufer brachte. Hier überreichte sie ihrem Gespielen die Frucht aus dem Garten mit dem Bedeuten, sie zu genießen, damit er dadurch jedes ungehörige und beunruhigende Sehnen nach den genossenen Freuden verliere.

Währenddem schwebte sie zu dem Schilfbestande und riss dort drei solche Gewächse ab. Diese überreichte sie dem Jüngling zum Abschiede und sprach: „Von nun an werden wir uns nicht mehr sehen. Nimm deshalb, guter Jüngling, diese drei Pflanzen mit nach Hause zur Erinnerung an die schönen und glücklichen Stunden, die wir mit einander verlebt haben.“ Nach diesen Worten verschwand sie im Teiche und Karl stand allein.

 

Der Morgen graute bereits. Karl lenkte seine Schritte heim-wärts. Als er ins Vaterhaus kam, fand er alle bereits munter. Freundlich wünschte er den Angehörigen einen guten Morgen, allein der Vater, der sich über das unerklärliche lange Ausbleiben seines sonst doch so braven Sohnes unge-mein gekümmert und gegrämt hatte, gab keine Antwort auf den Gruß, sondern überschüttete ihn mit einer Menge von Vorstellungen und Vorwürfen.

 

„Und was für Zeug bringst denn du da nach Hause?“ fragte der Alte, indem er auf das Schilf hinwies. Doch wie erstaunt er, als er bei näherem Zusehen bemerkte, dass es drei Schilfstengel aus purem Golde waren.

Nun war der Not mit einem Schlage ein Ende gemacht. Durch die Unschuld und den Biedersinn des Schustersohnes war Glück und Wohlstand im Hause eingezogen.

 

Der Lohteich aber ist heute versumpft und mit Pflanzen aller Art wild durchwachsen und deshalb wohl nicht mehr ein Reich für Wassermänner- und Wasserjungfern.

 

 

 

 

Der Feuermann von Altrothwasser

 

 

Zu jener Zeit, da die Dränierung oder Entwässerung der sumpfigen Acker- und Wiesenflächen noch nicht so im Gange war wie heute, da also wegen Unverstand oder Unvermögen der einzigen Besitzer größere und kleiner landwirtschaftliche Gebiete ziemlich morastig und nass sich ausbreiteten und dalagen, konnte man in den meisten Bezirken Schlesiens besonders zur Herbstzeit und in der Adventszeit noch vielfach Irrlichter, oder wie die Leute sagten „Feuermänner“ sehen.

 

Die Art und Weise ihrer Erscheinung wechselte je nach der Ausdehnung der nahe gelegenen Sumpfgegend und nach der Lebhaftigkeit der Phantasie jener Menschen, die solche Irrlichter zu Gesicht bekamen. Manchmal hatten die Feuermänner die Gestalt eines gewöhnlichen Menschen, nur war ihr Gesicht etwas geschwärzt, und die hatten feurig funkelnde Augen. Ein andermal trug einer in der Hand eine Laterne, mit der er etwas zu suchen schien. Dann wieder glich er einem Totengerippe, aus dessen Innern eine Feuerflamme hervorzüngelte. In Niederwald bei Wildschütz soll er in Gestalt eines großen und feisten Rindes gesehen worden sein, aus dessen Rippen ein Feuer herausbrannte. In Altrothwasser, über den Wiesen von Weißbach und an vielen anderen Orten, wurde er als brennende Strohschütte gesehen.

 

Die Bewegungen dieser nächtlichen Lichterscheinungen oder der Feuermänner war je nach der Stärke des eben streichenden Windes sehr verschieden. Sie konnten in sehr kurzer Zeit ganz erstaunlich weite Strecken zurücklegen, aber eben so leicht glitten sie im Eilmarsche einer Schnecke über die Fläche hin, als ob sie mühsam ein verlorenes Haar aus dem Fell eines Hasen am Boden suchen wollten.

Der Volksglauben hielt diese Feuermänner für Wesen, die mit Verstand und Willen ausgestattet waren und die die bösen Leute oft auf Abwege und in Sümpfe verführten; daher auch die Bezeichnung: Irrlichter; die den Guten aber gerufen oder ungerufen an finsteren Abenden und Nächten nach Hause leuchteten, weil sie von diesen gewöhnlich einen frommen Dank fürs Geleite erhielten, was ihnen wieder viel Freude und unsäglichen Genuß bereitete.

 

***

 

Der Buchmann-Bauer in Altrothwasser lebte mit seinem Weibe und seinen vier Kindern zwar kein üppiges, aber doch genügend sorgenfreies Leben. Seine Nachbarsleute, die doch von Zeit zu Zeit von Unglücksfällen in Haus, Stall oder Scheune heimgesucht wurden, missgönnten dem Bäuerlein sein sorgenloses Dasein, der schon durch längere Jahre hin-durch auch vor dem geringsten Schicksalsschlag verschont geblieben war. Und weil von der Missgunst bis zur Verdäch-tigung und geheimen Feindseligkeit nur ein ganz kurzer Schritt ist, raunten sich die Leute in der Gemeinde bald zu, dass der Buchmann-Bauer mit dem Höllenfürsten im Bunde sei, der ihn zeitlebens vor Schaden bewahren müsse.

 

Der Bauer konnte in seiner Schlichtheit die Gerüchte, die ihm auch hinterbracht wurden, nicht als etwas Boshaftes auf-fassen, hielt sie vielmehr als harmlose Geschwätzigkeit und meinte, wenn man die Zeit zur Arbeit und zum Gebete benütze wie er, dann sei ja der Segen Gottes unausbleiblich.

 

Einmal aber waren die Nachbarn doch zufrieden. In Buchmanns Hause lag die Frau und zwei von den Kindern gefährlich krank auf ihren Lagern und niemand im Orte wusste, oder wollte vielleicht nicht wissen, wie da zu helfen wäre. Der bekümmerte Gatte und Vater hatte schon alle möglichen Hausmittel angewandt, die ihm geraten worden waren, allein eine Besserung war nicht zu bemerken, im Gegenteil, der Zustand verschlimmerte sich, besonders bei der Frau, immer mehr. Was blieb da übrig, als den Doktor aus Weidenau zu holen. Flugs spannte er seine Rösser ein und fuhr in die Stadt, um selber mit dem Arzte reden zu können.

 

Es dunkelte bereits, als der Herr Doktor zu den Kranken trat und nach gründlicher Untersuchung nicht nur Heilmittel und Verhaltungsmaßregeln bestimmte, sondern auch den Trost gab, dass in einiger Zeit wohl alle Patienten wieder frisch und gesund sein würden. Diese Worte waren für das besorgte Bäuerlein lindernder Balsam. Voll Freude fuhr er den Doktor wieder zurück in die Stadt. Seine Gedanken jedoch weilten daheim bei den Seinen. Er merkte es fast nicht, dass die Pferde meist nur im langsamen Schritte vor sich hergingen und dass er in die finstere Nacht hineinfahre.

 

In Weidenau angekommen, dankte Buchmann dem Doktor vieltausendmal für seine Bereitwilligkeit und fuhr sofort wieder heim.

Schon mehr denn eine Stunde mochte er so in die pech-schwarze Finsternis hinein gefahren sein und noch immer sah er keine erleuchteten Fenster und Häuser, noch nirgends eine Spur von einem Dorf, oder auch nur einer menschlichen Wohnung; überall nur Felder und gepflügte Äcker, nur hie und da ein Strauchwerk und auch dieses nur so allgemein in der Form und im Wuchs, dass er sich gar nicht orientieren konnte.

 

„Wo bin ich denn eigentlich?“ fragte sich der Bauer und hielt die Pferde an. Er stand auf von seinem Kutschersitz, um so ein größeres Gesichtsfeld überblicken zu können. Er hatte trotz der undurchdringlichen Finsternis wahrgenommen, dass er vom harten Fahrwege auf weiches Erdreich abgewichen war, hatte aber beim besten Willen nicht mehr den rechten Weg finden können und war deshalb aufs Geradewohl langsam und vorsichtig hingefahren, in der Annahme, doch endlich in der ihm ganz genau bekannten Gegend irgend etwas anzu-treffen, das ihm auf den rechten Weg verhelfen würde.

 

Während nun Buchmann Umschau hielt, vermeinte er in der Ferne ein Lichtlein zu sehen. Auf dieses fuhr er hin, in dem sicheren Glauben, jetzt bald zu Hause zu sein. Doch wie erstaunte er, als er nach längerer Fahrt wohl vor einem erleuchteten Hausfenster sich sah, die Gegend und das Haus selbst ihm jedoch völlig unbekannt vorkamen. Kopfschüttelnd stieg er vom Wagen und pochte an die beleuchtete Fensterscheibe. Bald darauf trat eine Frau aus dem Häuschen und frug von der Haustür aus nach dem Unbekannten und nach seiner Begehr.

 

„Ach, gute Frau!“ sagte Buchmann, „könnt ihr mir nicht sagen, wo ich denn hier bin? Ich möchte gern nach Rothwasser und finde nicht den Weg dahin.“

 

„Nach Rothwasser wollt ihr in dieser Schwärze? I du mein liebes Herrgoottla! Da müsst ihr noch tüchtig drauf losfahren, denn jetzt seid ihr erst in Krosse,“ belehrte die Frau.

 

„Bezahl’s euch der Herrgott!“ dankte der Irrende, setzte sich auf den Wagen und trieb die Pferde abermals über Weidenau gegen Rothwasser.

 

Wieder war eine geraume Zeit verstrichen und wieder merkte er mit Schrecken, dass er vom Wege abgekommen sei. Wieder nur Äcker und Felder und Büsche und Sträucher. Buchmann wusste nicht, wie ihm plötzlich geschah. Ging denn die Sache überhaupt mit natürlichen Dingen zu, oder war er der Spielball feindlicher Kräfte? - Sollte er beten oder Verwünsch-ungen ausstoßen? - Sollte er hier unter freiem Himmel die Nacht zubringen und den Morgen erwarten? - Und seine kranke, gute Frau? - Und seine zwei armen. leidenden Kinderchen? - Wie wird’s wohl um diese stehen? - Wenn sie sich etwa wegen seines ungebührlich langen Ausbleibens ängstigen und aufregen, wird’s ihnen da nicht furchtbar schaden, sie vielleicht gar an den Rand des Grabes bringen trotz des Trostes des Doktors?

 

Noch war er unschlüssig, was er beginnen sollte, da bemerkte er abermals, wie bei der ersten Irrfahrt, in der Weite ein Lichtlein; allein diesmal stand es nicht stille, sondern schien sich hin und her, auf und ab zu bewegen.

 

„Ein Feuermann!“ dachte Buchmann und atmete freudig auf. „O, dass du mir doch den Weg zu Weib und Kindern weisest, wie wollte ich dir dafür dankbar sein!“ so murmelte er halblaut vor sich hin, und seine Freude wurde jeden Augenblick größer, denn er sah, dass dieses Lichtlein, tatsächlich mit jeder Sekunde ihm näher kam und immer größer wurde, bis es endlich als brennende Strohschütte neben ihm schwebte und immer nach einer bestimmten Richtung hinzüngelte.

 

Buchmann fuhr nun mit seinen müden Rössern in den von der Lichterscheinung gewiesenen Richtung, wobei die Schrohschütte die bald wieder zu einem kleinen Flämmchen zusammen geschrumpft war, stets vor ihm einherhuschte. Bald war das Gefährt auf einem Fahrwege, und nach kaum weiteren zwanzig Minuten stand es vor des Bauern Hause.

 

„Vergelts Gott!“ rief voll Dankbarkeit der überglückliche Bauer und betete still ein andächtiges „Vater unser.“

 

Doch kaum hatte er sein Gebet vollende, so war auch schon das Lichtlein verschwunden und vor Buchmann stand ein grauer Mann, der ihm bekannte, dass er durch den frommen Dank und durch das Gebet endlich von der Strafe, als Feuermann herum zu irren, erlöst sei. Dann war auch der Mann plötzlich verschwunden, der Buchmann glücklich heimgeführt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Herrin im Schlosse zu Schwarzwasser

 

 

Nicht immer gab es in unserem Schlesierländchen ein so emsiges und geschäftiges Treiben wie jetzt, da in  Bergen und Tälern, auf Feldern und in Werkstätten die Leute ihr tägliches Brot zu erarbeiten trachten. Heute braucht man erst nicht gar weit zu gehen, um schmucke Wohnungen und malerisch sich ausbreitende Ortschaften anzutreffen, die vor Jahr-zehnten, ja Jahrhunderten an Stelle mächtiger Wälder entstanden waren. Dort, wo jetzt friedliche Gemeinden sind, waren vielleicht Tummelplätze für Jagdwild oder gar für Wölfe und Bären.

Zu jener Zeit also, als die Gegend um Weidenau herum noch wenig bewohnt war, vielmehr meist mit dichtem Walde bestanden war, erbaute ein schlesischer Herzog in der Gegend des heutigen Schwarzwasser ein Jagdschloss, dass später an Privatbesitzer überging. Unter diesen gab es einmal ein Frau, die in jeder Beziehung dem zarten weiblichen Geschlechte zur Unehre gereichte. Ihr Herz schien aus hartem Granit gemeißelt zu sein, das keine Linien von Zartsinn, Mitgefühl und Nächstenliebe sehen ließ.

 

Ihr Mann, mit dem sie mehrere Jahre in kinderloser Ehe gelebt hatte, war als Vierzigjähriger in die Ewigkeit hinübergegangen, und wenn die zahlreichen Dienstleute im Schloss bei dessen Beerdigung es auch nicht laut auszu-sprechen wagten, im geheimen Kämmerlein des Herzens trug jeder den unausgesprochenen Gedanken: Gott hat dich, Schlossherr, endlich erhört und die letzte Bitte deiner vielen „Vater unser“ erfüllt: er hat dich von einem großen Übel, von deinem Weibe, erlöst.

 

War sie schon ihrem Gemahl gegenüber ein wahrer Quälgeist, so mussten die Diener, die weiblichen sowohl als die männlichen, auf Schritt und Tritt fühlen, dass die Gebieterin nicht nur Arbeitgeberin und sowie auch Verpflegerin, sondern auch, und dieses erst recht empfindlich, Sklavenhälterin und Menschenschinderin war. Ihr ganzen Sinnen und Trachten ging auf das eigene. Ich und auf den eigenen Vorteil; ob sie zu diesem Ziele über Schweiß- und Blutbächlein der Arbeiter oder gar über deren Leichen gelängte, darüber machte sich die reiche Dame keine Gedanken.

 

Niemand gewahrte jemals einen freundlichen oder heiteren Zug in ihrem Angesicht. An der Stirne hatten sich beim Nasenbein zwei tiefe Querfalten, Zeichen eiserner und trotziger Energie, eingegraben; die dunklen Augen blickten stets gewitterdrohend vor sich hin, die blutleeren Lippen des wortkargen Mundes lagen zusammengepresst über einander und ließen den Zug der Strenge und der Verbitterung um die Mundwinkel um so stechender hervortreten. Sogar das Einherschreiten erinnerte mehr an das eines Mannes als an ein frauenhaftes Wesen. Nie ging sie ohne Stock aus und trug bei ihren Wegen über die Felder in der Regel noch eine starke Lederpeitsche, um damit etwa müde Arbeiter wirksamer an ihre Pflicht zu erinnern.

Bei all ihrer Härte und Strenge hatte das gefürchtete und gehasste Mannweib doch einen Zug und ein Gefühl von Zuneigung und Liebe in ihrem Herzen wach erhalten. Leider schenkte sie diese Begünstigung nicht einem Mitmenschen, sondern zwei Bluthunden, die in Haus, Hof und Wirtschaft ihre unzertrennlichen Freunde und Begleiter waren. Wo sie stand und ging, die beiden Bestien klebten ihr förmlich an der Ferse; was sie genoss, den zweien wurde davon mitgeteilt, bis sie satt waren; der Herrin Schlafgemach war auch deren Schlafgemach. Diesen zähnefletschenden Freunden bezeigte sie ihre besondere Aufmerksamkeit, Freundschaft und Liebe und wenn sie auch sonst an niemanden ein liebes, sanftes Wort richtete, bei den Hunden war sie überschwänglich damit.

 

Einmal stand die Schlossherrin zur Erntezeit am frühen Morgen auf dem Felde und ließ ihr scharfes Auge über die geradezu unübersehbaren Arbeiter schweifen. Wie da ob dieses Anblickes ihr Herz vor Freude schneller und heftiger schlug! Dies alles ist mir gefügig und untertan und plagt sich im Schweiße des Angesichts, um mir das bisschen Hundeleben angenehmer und gemütlicher zu gestalten, dachte sie und schnalzte zufrieden mit Daumen und Zeigefinger. Ich weiß wohl, dass diese meine Sklavenseelen nicht aus Liebe zu mir so fleißig arbeiten, sondern aus Furcht vor Strafe und vor dieser Hundepeitsche. Doch was liegt denn daran? Liebe? - Haß? - Ha! Ich brauche deren Liebe nicht, aber - fürchten, fürchten müssen sie mich!

 

Und sie schritt durch die Reihen und Gruppen der arbeitenden Männer und Frauen, ohne auch nur ein einziges Wort des Lobes oder der gerechten Anerkennung zu verlieren. Der Umgebung Qualen waren ihr ein Hochgenuss. In der Nähe einiger abgehärmter Frauen, die da Garben banden, blieb der Drache in Menschengestalt stehen und zählte die Arbeiterinnen. Sie zählte ein zweites, ein drittes Mal und glaubte noch immer, dass sie sich irre; denn nach ihrer Anordnung, die sie tags vorher hatte ergehen lassen, hätte eine weibliche Arbeitskraft mehr da sein müssen. Sie musterte nochmals die Leute, dann ruft sie eine von den Frauen zu sich.

 

„Ich habe gestern den strengen Befehl gegeben, dass heute alle Dienstleute ohne Ausnahme zur Arbeit zu erscheinen haben,“ sprach sie mit kreischender Stimme. Wer von euch Weiberleuten wagte es, meinen unabänderlichen Auftrag zu verachten?“

 

Die Angeredete begann am ganzen Körper zu zittern, brachte aber kein Wort hervor.

  

„Wie ? Du sprichst nichts? Willst nichts reden? - Gottverfluchtes Gesindel!“ tollte die Zornwütige. „Nicht wahr, weil’s gegen mich ist, haltet ihr Elenden fest zusammen? - Sag an, wer ist jene Pflichtvergessene, jene Verdammte, die sich gegen mich so gröblich auflehnt? - Sprich! oder -.“ Die Peitsche fuhr klatschend über der geängstigten Frau Angesicht, und blutend sprang eine Strieme auf deren Wange auf.

 

„Herrin,“ stöhnte die Gegeißelte, „ich weiß nicht von einer Auflehnung. Ich weiß nur, dass das Eheweib jenes Schnitters dort wirklich ernstlich krank ist und nicht kommen konnte.“

 

„Nicht kommen konnte? Wenn ich befehle, müssen sogar die Toten aus den Gräbern kommen können. - Gut, geh nun an deine Arbeit!“

 

Nach diesen Worten kehrte sie der Misshandelten den Rücken und ging auf den erwähnten Schnitter zu. Dieser erschrak, als er ganz unvermutet neben sich die Schlossherrin schreien hörte.

 

„Du hast dein Weib zu Hause?“ fuhr sie ihn an.

„Ja, Herrin, entgegnete er ruhig.

„Sie sollte heute hier auf dem Felde sein.“

„Sie kann’s nicht, Herrin.“

„Weil sie faul ist!“

„Nein, nicht faul, aber krank.“

„Sooo? Meinem Befehle müssen selbst Kranke gehorchen.“

„Aber uns hat Gott vor drei Tagen ein Kind geschenkt, Herrin, und da können kranke Mütter nicht gehorchen.“

„Wozu braucht ihr diese Bälger und noch dazu zur Zeit der Ernte? So ganz ohne meine Erlaubnis?“

„O Herrin, Herrin! Versündigt euch doch nicht an....“

Weiter konnte der Schnitter nicht reden, denn die Gefühllose wies ihn an seine Arbeit und deutete ihm an, dass sein Eheweib doch noch zur Arbeit kommen würde.

 

Und die harte Schlossfrau ließ, trotz aller Vorstellungen, dass das Kindlein zwar schon getauft, die Mutter des Kindes aber noch nicht eingesegnet sei und daher das Zimmer noch nicht verlassen dürfte, die Mutter samt ihrem Kinde holen und auf das Feld schleppen.

 

Hier angelangt, musste die arme Frau das neugeborene Kindlein auf einen Feldrain legen und bei all ihrer körperlichen Schwäche ununterbrochen und angestrengt den ganzen Tag arbeiten, ohne auch nur ein einziges Mal nach ihrem Kinde sehen zu dürfen.

Alle Feldarbeiter ergrimmten bis in das Innerste des Herzens über das unerhörte Vorgehen der Besitzerin, doch keiner, nicht einmal die Eltern des Kindes wagten, eine Bemerkung oder eine weitere Vorstellung vor der Frau zu machen; denn alle fürchteten die Peitsche und ganz besonders die beiden Bluthunde, die schon so manchen aus ihren Reihen zu Tode zerfleischt hatten, ohne dass auch nur irgend jemand um die armen Opfer des weiblichen Zornes gefragt hätte.

 

Der Abend kam heran. Ein schriller Pfiff von der Schlossfrau selbst gegeben, zeigte den verbitterten Arbeitern an, dass sie für heute die Arbeit beenden dürften. Die kraftlose Kindesmutter hatte diesen Augenblick nicht mehr erwarten können. Nun ließ sie alles stehen und liegen und wollte zu ihrem Kindlein eilen, das sie doch den ganzen Tag nicht gesehen hatte. Doch ihre Mutterliebe war größer als ihre zerrütteten Kräfte. Sie stürzte vor Mattigkeit hin, ehe sie beim Kinde angelangt war und erhob sich nach kurzer Rast, um neuerdings, diesmal noch erschöpfter, niederzusinken. Mitleidige Frauen hoben sie empor und geleiteten sie zum verlassenen Liebling, während die Schlossfrau, siegesfroh und unbekümmert um das Los des Kleinen und der Mutter, stolz den Heimweg einschlug.

Doch wie entsetzlich war die arme Mutter erschrocken, als sie am Feldraine, wo sie vormittags ihr Kindlein hingelegt hatte, ein missgestaltetes totes Wesen in Kindesgestalt fand, das sie unmöglich als ihr eigenes Kind wieder erkennen konnte. Die Augen traten glotzend aus den Höhlen hervor, die zahnlosen Kiefern waren so groß, dass die schwachen Lippen sie nicht bedecken konnten, der Unterleib außergewöhnlich dick; kurz, ein grauenvolles Bild bot sich der bedauernswerten Frau dar.

 

Die arme Mutter war der Verzweiflung nahe. Sie brach in Verwünschungen gegen die Schlossfrau aus: „Ruchlose! Weil du selbst keine Kinder hattest, übtest du auch an mir kein Erbarmen. Gott kennt dein schwarzes Herz noch besser und genauer als wir und hat dich des Kindersegens für unwert befunden. Deine Hunde liebst du und sorgst dich um sie mit aller Zärtlichkeit; mein Kind aber ist in denen Augen weit weniger wert als deine Viecher. Du bist die Ursache, du allein, dass mir das geliebte Kind geraubt worden ist, und so möge der Gerechte im Himmel dir im Leben und selbst nach dem Tode keine Ruhe geben, so lange du keine Liebe zu Kindern und Menschen in deinem Herzen empfindest.“

 

Die zum Tode erkrankte Mutter erholte sich bei fürsorglicher Pflege des Gatten und der Mitarbeiterinnen. Ihre Verwünsch-ungen gingen an der harten Frau in Erfüllung, und so oft auch das Schloss in Schwarzwasser an neue Besitzer überging, immer will man die Schlossfrau mit verstörtem Angesicht, in weiße Kleider gehüllt, ein Kind auf den Armen, in den Fenstern des Schlosses gesehen haben.

 

 

Die Reichenauer auf Kaltenstein

 

 

Die Überreste der Burg Kaltenstein oder Kaldenstein, wie sie in allen Urkunden benannt wurde, liegen östlich von Friedeberg auf einem einsamen mit Schwarzwald und Laubgehölz bewachsenen Hügel am Fuße des großen Falkenberges. Eine niedrige, zum Teil unterbrochene Mauer rings um die Trümmer der Burg, lässt deren ehemalige Ausdehnung beurteilen. An der westlichen Seite steht noch ein Turmüberrest, der oben in zwei Zacken endet und außer einer vollkommenen Rundung gegen Westen nur noch einzelne Bruchstücke des aus Granit ausgeführten Gemäuers dem Blicke darbietet.

Ein großes Stück schlesischer Vergangenheit, ein melancholisch anmutender Zeuge aus jener Zeit, da die Burg Kaltenstein zu den mächtigsten und berühmtesten Burgen in Schlesien gehörte, ein viele Jahrhundert alter Prediger der alles mit sich reißenden Vergänglichkeit!

 

Zeit und Zweck der Erbauung der Burg sind ins dunkelste Grau gehüllt; erst gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts wird sie urkundlich als schon bestehend erwähnt. Eben so sicher verbürgt ist, dass Bischof Przecislaus von Pogarell im Jahre 1345 die Burg an sein Bistum gebracht hatte. In den folgenden Jahrzehnten wurde sie durch die Bischöfe von Breslau zu wiederholten Malen verpfändet und musste im Jahre 1440 sogar als Sitz des berüchtigten Raubritters Sigismund von Reichenau dienen. Dieser Sigismund, bisher Kastellan von Neuhaus in Preussisch-Schlesien, war nämlich mit einem Haufen nicht ganz einwandfreier Ritter und Trossknechte im Jahre 1440 gegen den damaligen Besitzer von Kaltenstein, Pelkan, ausgezogen, hatte sich, der Burg bemächtigt und sich daselbst mit seiner Tochter Margarita und seinem einzigen Sohne Hagen wohnlich eingerichtet.

Von da aus unternahm der ältere Reichenauer mit seinem erwachsenen Sohne Raubausfälle auf meist wehrlose Kauffahrer, die von Wien nach Breslau ihre Wagen führten, fiel ganz unvermutet, durch die Rüstung, die er meist bei seinen Raubzügen angelegt hatte, unkenntlich gemacht, in die nahem Besitzungen, Gehöfte und Ortschaften ein, führte der Einwohner Fleiß mit sich fort und hinterließ dafür oft nur qualmende und rauchende Wohnstätten, Zeichen herzloser Verwüstung, ja nicht selten sogar röchelnde oder leblose Menschenopfer der unritterlichen Raubgier.

 

Hagen erwies sich bei all dieser Lebensführung als würdiger Sohn seines nichtswürdigen Vaters; an Dreistigkeit, Unter-nehmungslust und Tollkühnheit überflügelte er sogar seinen Lehrmeister.

 

So war der Herbst des Jahres 1440 gekommen. Die Klagen und Jammerrufe der beraubten Kaufleute, sowie der geschädigten Bewohner drangen zu Ohr und Herz des damaligen Bischofs Konrad von Breslau, vor dessen Gerechtigkeitssinn und Tatkraft den Reichenauern doch mitunter etwas bange wurde.

An einem solchen Herbstabende kehrten eben Sigismund und Hagen von einem Plünderungszuge in die Burg Kaltenstein zurück. Wortlos, sichtlich verstimmt, betraten beide den Raum in dem ein mächtiger Kamin die Möglichkeit bot, durch ein prasselndes Feuer die in schlesischer Herbstkälte etwas durch-gefrorenen Glieder zu erwärmen. Wams und Beinkleider waren durchnässt vom kalten Regen.

 

„Wo nur Margit heute steckt?“ fing endlich der Vater mit müder Stimme an und ließ sich auf eine Bank in der Nähe des Kamins nieder. „Das gute Kind ist doch sonst immer um unser Wohl und Leben so besorgt und bekümmert! Sonderbar, dass es heute noch finster auf dem Kamine ist! Will uns denn unsere tugendsame Margit im kalten Gemach Buße tun lassen für unsere Unternehmungen? Na, ich denke, durch ihr strenges Fasten und durch ihr beständiges Gebt tut sie genug Buße für uns beide sogar. Gell, Hagen?“

 

„Natürlich, Vater!“ entgegnete der Sohn; „so viel Buße für die kleinen Fehler, die wir manchmal begehen, wird auch dem Herrgott lästig sein. - Ha ha! Da müsste er genau so eng um’s Herz und so beschränkt im Kopfe sein wie der herzogliche Bischof vom Breslau, der schon den Bann über uns ausgesprochen. Davor schrecken wir noch nicht zusammen. Was soll auch Fluch und Bann gegen die Ritter von Kaltenstein? - Brrr! Wie’s mir friert! Und kein Stück Holz ist da zu sehen.“

„Geh, Hagen! rufe Margit, damit sie Feuer anblase,“ mahnte der Vater. Der Sohn gehorchte und ging.

Nach einigen Minuten brachten zwei menschliche Gestalten große Bürden Holzes in das bereits ganz dunkle Gemach. Nur an der Stimme der einen Gestalt, die dem dort ruhenden Reichenauer ein: „Gott grüße dich, Vater“ zurief, merkte derselbe, dass der Engel des Hauses, seine Margit, in der Nähe sei.

„O Kind! schnell, schnell ein luftiges Feuer!“ bat Sigismund von Reichenau, „Damit ich in dein liebes Angesicht schauen und mich an deinen Unschuldsaugen erfreuen kann. Der heutige Tag hat so nichts Schönes für uns gebracht.“

 

Bald knisterte, prasselte, loderte auf der Feuerstelle ein lebhafter Brand, der wohltuende Wärme verbreitete und drei schweigsame Reichenauer beleuchtete. Sigismund und Hagen lagen ausgestreckt auf den harten Bänken zu beiden Seiten des Kamines. Margarita kauerte auf einem Schemel vor dem Feuer und ließ ihr Köpflein zur Brust herabhängen. Nur zeitweilig erhob sie die Augen, um zu schauen, ob es nicht bald Zeit wäre, neue Holzstücke in die Glut hineinzulegen. Dem müden Vater und ruhenden Bruder gönnte sie vom Herzen die einschläfernde Wärme, und wirklich erkannte sie in kurzer Zeit an den regelmäßigen und tiefen Atemzügen ihres Bruders, dass er im Schlaf der Gegenwart entrückt sei.

Auch der Vater schien zu schlafen. Doch dem war an seiner Margarita heute Abend das eigentümliche und gedrückte Wesen aufgefallen, was ihn derartig aus der Ruhe brachte, dass er trotz aller Mattigkeit keinen Schlaf finden konnte. Er drückte deshalb die Augen nur zu, um so seine Tochter unauffällig beobachten zu können. Es entging ihm auch tatsächlich nicht, dass sie von Zeit zu Zeit aus gepresstem Herzen einen unterdrückten Seufzer emporsteigen ließ und verstohlen manches Tränlein von den Wangen wischte.

 

„Gott, mein Gott!“ stöhnte Margarita mit einem Male leise und unbewusst hervor: „Warum musste denn alles so und nicht anders kommen?“

 

„Kind, welch geheimer Kummer martert deine Seele?“ forschte teilnehmend der Alte mit gedämpfter Stimme. „Ich habe dich jetzt die ganze Zeit geheim beobachtet und weiß dass du innerlich furchtbar zu leiden hast.“

 

Margarita erschrak bei der unerwarteten Anrede und schwieg. Nur die jetzt heftiger hervorbrechenden Tränen, nur das anhaltende stille Schluchzen verrieten, dass Sigismund recht geurteilt habe.

Der Vater erhob sich geräuschlos, damit Hagen aus seinem tiefen Schlafe nicht geweckt würde, nahm seine Tochter zärtlich bei der Hand und zog sie an sich. Willenlos ließ diese es zu. Dann aber schlang sie ihre Arme um den Hals des Vaters, schluchzte herzbrechend an dessen Brust, ohne auch nur mit einem Worte anzudeuten, welcher Art ihre Seelenqual wäre.

 

Mitleidig presste der Ritter von Reichenau das Haupt seines Kindes an sein Vaterherz. Sein Auge ruhte mit einem gewissen Stolz auf der Jungfrau. Wie schön sie war trotz der bescheidenen häuslichen Kleidung! Das Gesicht so edel geformt, die Stirne so rein, das dunkle Auge so unschuldsvoll, die Haarflechten so wohlgepflegt und aufgelöst herabfallend über den schlanken Körper! Und nun, dieses unerklärliche Weh, das über ihre ganze Gestalt ausgegossen war, machte aus der irdischen Jungfrau fast einen Engel des Himmels. Und vor diesem Engel, dem Bilde der Sündenlosigkeit, stand er: der Räuber und gewissenlose Vater. Er schämte sich nunmehr in diesem Augenblick seines ehrlosen Handwerkes und ein Gefühl der Reue regte sich in seinem stahlharten Herzen, an dem seine fromme Tochter jetzt ruhte.

„Nun, mein Töchterlein!“ hub Sigismund leise an, „hast du nichts, gar nichts, gar nichts deinem Vater zu sagen?“

 

Nach langem Zögern hob Margarita von Reichenau ihr Angesicht, schaute dem Vater Blicke in die etwas trotzigen Augen und lispelte: „O Vater, wenn mein Mütterchen vor zwei Jahren nicht gar so früh gestorben wäre, ich denke, nie und nimmer wären wir auf diese Burg Kaltenstein gekommen, nie wäre das Geschlecht der Reichenauer zu Raubrittern herab-gesunken und nimmer hätte uns des geistlichen Vaters Bann getroffen. „O Gott, warum es so kommen musste! - Keinem Priester darf ich nahe kommen, an keinem Gottesdienste teilnehmen, jeder Christenmensch muss unsere Nähe fliehen. Ach, ein solches Leben ist fruchtbar, ist unerträglich, und meine Seele welkt und ermattet vor ständigem Verlangen nach höherer Erquickung“.

 

„Armes Kind! Du tust mir weh mit deinen begründeten Vorstellungen; doch sage, waren denn die Ritter von Giergeneck und Reichenstein etwa edler in ihren Dienste als wir? Sind wir Ritter nicht gezwungen, uns das mit Gewalt zu holen, was uns die Natur hier auf der felsigen Burg, was uns das Volk nicht gutwillig gibt?“

 

„Vater! Warum erwähnst du nur die von Reichenstein, von Giergeneck? - Willst du etwa durch jene Pflichtvergessenen dein Gewissen einschläfern oder gar töten, dich durch sie entschuldigen? O unedles Unterfangen! - Warum erinnerst du dich nicht an Gottfried von Bouillon, den Beschützer des heiligen Grabes, warum nicht an Friedrich den Rotbart, an Leopold den Tugendhaften, an alle jene Ritter, die da wahrhaft Beschützer waren des Glaubens, der Kirche, der Witwen, Waisen und Wehrlosen? Warum nennst du mir nicht Ritter der Gegenwart, wie die vielen, die an der Seite des Bischofs noch immer ihre heilige Pflicht erfüllen?“

 

Wie zum Beispiel Ritter Otto, der dich treulose verlassen?“ fragte Sigismund mit besonderer Betonung.

 

„Ritter Otto?“ schrie jetzt Margarita gequält auf, so dass Hagen aus seiner Ruhe geweckt ward und liegend der Unterredung zuhören konnte. „Ritter Otto musste so handeln, weil ich die Tochter eines Gebannten, eines Raubritters, bin. Nicht eine Margarita hat er im Stiche gelassen, sondern die Margit von Reichenau, weil in ihren Adern das Blut des Raubritters von Kaltenstein rollt.“

 

Die letzten Worte sprach sie mit bewegter, zitternder Stimme. Sie hatte ihre Arme vom Halse des Vaters fallen lassen und griff mit der Rechten unwillkürlich nach dem wild klopfenden Herzen.

 

„Ich habe schwer getragen an dem Verlust meines Bräutigams Otto, es ist wahr,“ fuhr Margarita fort, „ich leide noch jetzt darunter. In meiner Seele kämpfen Frauenliebe und Kindes-liebe einen heißen Kampf, doch ich kann nicht Ottos Gattin sein, so lange Otto als echter Ritter ein Gegner des Geschlechtes der Reichenauer ist und sein muss. - Vater, es wird spät. Willst du mir heute noch eine Bitte gewähren, eine, von deren Erfüllung oder Nichterfüllung unser aller Glück oder Unglück abhängt?“

„Rede, Margit!“ antwortete Sigismund.

„Willst du dich dem Bischof unterwerfen und dein schmachvolles Treiben hier aufgeben?“ fragte die Jungfrau.

„Nein!“ entgegnete der Alte kurz.

„Auch dann nicht, wenn ich dadurch Ottos Gemahlin würde?“

„Nein und abermals nein!“

„Dann Vater, kann ich nichts mehr tun. Hier ein Schreiben, das mir während euerer Abwesenheit heute eingehändigt ward.“ Mit diesen Worten zog sie ein Pergament hinter ihrem Leibgürtel hervor und überreichte es dem Vater.

 

„Dieser ging nahe an den Kamin, legte ein Stück Holz in die Glut und überflog beim Scheine der neu aufflackernden Flamme den Inhalt des Pergamentes. Auch Hagen war herzu gekommen, um den Inhalt des Schreibens kennen zu lernen.

Fragend sah Sigismund seinen Sohn an, indem er dabei unbewusst und mechanisch das Schreiben zusammenlegte.

Hagen unterbrach zuerst das Schweigen und sprach: „Sei unbesorgt, Vater. Drohungen, nur Drohungen ist’s was da im Briefe steht, und sonst nichts. Auch ein Krummstabträger isst nicht so heiß, als gekocht wird. Und wenn wirklich der angesagte Gesandte, Ritter Otto morgen zur Unterhandlung herkommen sollte, dann stelle ich mich ihm entgegen und jage ihn mit Spott und Hohn zu seinem Herrn davon. Sollte der Bischof aber es ernstlich meinen und etwa heimlich ein Fähnlein Reisige und Knappen dem Unterhändler nach-ziehen lassen, dann, dann ist der Reichenauer Blut auch noch nicht aus Wasser, deren Sehnen nicht aus Spinngewebe und - eher soll Kaltenstein in Schutt und Trümmer fallen, als dass die Bewohner der Burg um Gnade flehen. Gelt, Marga, im Notfalle stellst auch du deine Kräfte in den Dienst des Vaters?“

 

„Ich werde tun, was die Liebe mir gebietet,“ erwiderte entschieden die Gefragte.

 

Am Kamine verglomm das Feuer. Der alte Reichenauer mahnte zum Schlafe. Er suchte noch am Abende den Turmwächter auf, gab ihm den Befehl, den nächsten Tag scharf auszuschauen, ob etwas aus der Neisser Gegend jemand gegen Kaltenstein käme, und gar bald lagen Vater und Sohn im tiefsten Schlaf.

Auch Margarita hatte sich in ihr Gemach zurück gezogen. Allein ein erquickender und stärkender Schlaf wollte sich nicht einfinden. Unruhig warf sie sich auf ihrem Lager hin und her und ihre zuckenden Lippen riefen im Traume: Otto! o armer Otto!

 

Der Morgen graute. Dicke Nebelschwaden lagerten um die Raubritterburg und verhinderten jede Fernsicht. Nichts-destoweniger lugte der Turmwächter, ein ungemein verläss-licher Diener Sigismunds, mit seinem Falkenauge durch die kleinen Mauerfensterchen, als wollte er die dichten Wolken-schleier durchdringen und erspähen, was sich hinter ihnen in der Ferne abspielte. Auch Sigismund und Hagen waren zeitig aufgestanden. Der tiefe Schlaf hatte sie, trotz der Strapazen des Vortages, neu gekräftigt; sie durften heute nicht bis in den späten Tag ruhen, denn es galt, sich für jede Möglichkeit bereit zu halten. Der Bischof hatte zwar geschrieben, dass Ritter Otto nur als Unterhändler kommen würde, so dachten die Reichenauer. Allein wer konnte mit Bestimmtheit sagen, dass ein Gewaltstreich der bischöflichen Untertanen aus-geschlossen sei? - Und wenn wirklich ein solcher offen oder aus dem Hinterhalte erfolgen sollte, dann wäre es nur von Vorteil, wenn man auf die Abwehr wohl vorbereitet sei.

 

„Schau nach unseren Pferden, Hagen!“ befahl der ältere Reichenauer. „Sieh nach den beiden Rennern, ob die Hufe bei ihnen in Ordnung sind. Du weißt es, wie ich dies meine. Ha ha ha! Wie oft schon haben diese Hufe unsere Verfolger irre geführt! Verdammt! So schlau wie die Reichenauer ist doch noch kein Ritter gewesen. Ho ho ho! Geh, also mein Sohn! Ich werde inzwischen Umschau halten, ob alle Mannen an ihren Plätzen sind und ob die Waffen einen ernstlichen Strauß aushalten.“

 

Nach vollzogener Untersuchung und Nachforschung konnten beide ihre Zufriedenheit zum Ausdruck bringen; nur der Vater hatte eine unverhoffte Wahrnehmung gemacht, die ihn ein wenig drückte. Auf seinem Rundgange war er nämlich in der Rüstkammer seiner Tochter begegnet, die gar so traurig an der Rüstung Hagens herumputzte. Auf die Frage, ob sie auf alles gefasst sei, gab sie erst gar keine Antwort, dann sah sie den Vater wie geistesabwesend an und stammelte mit zuckendem Munde: „Vater, -- du willst nicht -- nein, nein -- willst nicht -- ritterlich sein -- willst nicht -- mich - glücklich sehen.

-- O, dass er käme -- käme!“

 

„Wer denn?“ forschte der Vater. „Otto?“

„Der -- der Tod!“ kreischte Margarita auf. Dann ward sie aber plötzlich ruhig und flüsterte  kaum hörbar: „Ja, Otto, mein armer Otto!“

Sigismund merkte, dass Margits Nerven überreizt seien und wollte sie aus der Rüstkammer fortführen; doch er musste von seinem Vorhaben abstehen, weil sich die Jungfrau entschieden dagegen sträubte und den Helm Hagens reinigte.

 

Als der Alte diese seine Beobachtungen dem Sohne mitteilte und seine Befürchtungen aussprach, Margit könnte etwa irre geworden sein, tröstete der junge Raubritter mit dem Hinweis, es sei gut für die Schwester, in der Rüstkammer zu bleiben, weil ihr so jede weitere Aufregung bei Ottos Ankunft erspart bleibe.

 

Dem nebeligen Morgen war ein heller Vormittag gefolgt. Alle Burgleute hatten ihre Posten, ihre Pflicht zu tun, durften den ihnen angewiesenen Ort nicht verlassen. Die Erwartung, was da kommen würde, stieg immer höher bei allen. Die Sonne näherte sich dem Höhepunkt. Der Turmwächter konnte trotz des klaren Wetters nicht erspähen. Die gespannten Nerven der wartenden Burgbewohner drohten zu reißen.   Während der allgemeinen Erwartung auf der Burg, zog durch dichten Wald gedeckt, ein Trupp Reiter gegen Friedeberg zu. Am Fuße dieser Burg gab der Führer der Schar den Befehl, längs des Weges weiter gegen Kaltenstein zu ziehen, er selbst wolle mit seinen Gedanken allein sein und werde deshalb über einen niedrigen Berg gehen und jenseits der Höhe wieder zu ihnen stoßen. Der Befehlshaber, ein junger Ritter mit dunklem Bart und ernstem Auge, stark und kräftig gebaut, stieg ab vom Pferde und ging, in seine Gedanken vertieft, die Anhöhe hinan. Sein treues Ross führte er mühelos am Riemen nach. Er gelangte fast bis zur Höhe des Berges, wo er durch das offene Visier die würzige, kühle Waldesluft in tiefen Zügen einsog.

 

„Halt ein! Jetzt keinen Schritt mehr weiter!“ rief eine Stimme dem schmucken und nichts Böses ahnenden Ritter entgegen, und aus dem Dickicht sprang eine bis an die Zähne gewappnete Gestalt hervor. „Halt!“ schrie die unkenntliche Gestalt wieder, stehe, rede und antworte mir! - Treuloser! Warum hast du Margarita von Reichenau verstoßen? Sprich! War sie dir nicht einst die Teuerste, wie du selbst es früher geschworen? -- Hat sie dich nicht allen andern vorgezogen, mit selten starker Liebe dich geliebt? -- Drum stehe still. Otto, denn in einem Kampf auf Tod und Leben muss du mir hier Rechenschaft und Erklärung für deine Treulosigkeit ablegen. Zieh dein Schwert aus der Scheide! Das meinige lechzt nach Sühne und Blut.“

 

Der überraschte Ritter Otto ließ sich durch den Unbekannten nicht aus der Fassung bringen. „Wer bist du? fragte er ruhigen Tones, „wenn du mir den Weg verbietest, wie ein Strauchritter und Wegelagerer, dann sollst du auch einen entsprechenden Lohn von mir empfangen. Bist du aber ein Ritter, der da ficht für heilig Recht und Gut, dann öffne dein Visier und lass mich sehen, wer es da wagt, mit mir in einem Kampfe sich zu messen, wer da so heiß Verlangen trägt, durch meine Hand und mein reines Schwert zu sterben. Drum zeige dein Gesicht, denn ich bin nicht gewöhnt, mit Unbekannten zu kämpfen.“

 

„Des Fechters Antlitz brauchst du nicht zu sehen. Blick auf den Schild!“ entgegnete der Unbekannte. „Kennst du dies Wappen hier? O ja, du kennst’s! Der Reichenauer Zeichen, wie?“

 

Ritter Otto nickte bejahend. „Ich bin der Bruder deiner Braut, Hagen von Reichenau und will deinen Abfall blutig rächen. Ehe noch der Abend kommt, sollst du gesühnt haben die Schmach und Leiden, die du meiner holden Schwester angetan. Drum lass herab dein Visier, denn nur zu lange schon hab ich auf dich gelauert.“

Otto band sein Ross an einen Baum, zog sein wuchtiges Schwert und drang auf seinen Angreifer ein. Es kreuzten sich die beiden Schwerter in nur einigen Gängen, denn Ottos Kraft und Geschicklichkeit hatte bald den Sieg auf seiner Seite geneigt. Des Gegners Arm erlahmte gar zu schnell, er seufzte, sank im dumpfen Fall zu Boden und durch das durchbohrte Ringelhemd rieselte in einem Bächlein dessen warmes Herzblut.

 

Bei diesem Anblick durchzuckt den kühnen Ritter Otto eine unerklärliche Erschütterung; eine bisher nie gefühlte Angst, ein unfassbares Mitleid durchzittert sein edles Herz. Er möchte seine Tat so gerne ungeschehen machen, schon bereut er seinen Ungestüm, sein entscheidendes Drauflosgehen. Alle Vernunftsgründe, durch die er seine blutige Tat rechtfertigen will, halten nicht Stand, sinken wie Grashälmchen haltlos zusammen; er fühlt, hier sei die Vernunft zum Schweigen verurteilt, weil das Herz, sein Herz, zu laute Sprache rede.

 

Zögernd, mit zitternder Hand nimmt er dem Hingestreckten den Helm vom Haupte.

Wehe, wehe! -- Wie flüssiges Gold ergoss sich aus dem Helme über den Waldboden ein blondes, langes Haar. Zwei im Sterben brechende Augen schauen Otto zum letzten Male an, zwei Augen, die einst liebend auf ihm geruht, aus denen er einst die ganze sich hingebende Liebe einer Mädchenseele herausgelesen. Er hörte zwei blutleere Lippen Otto flüstern, Lippen, die noch vor wenigen Minuten in rosiger Glut geblüht. Zu spät erkennt Otto, dass er nicht Hagen, sondern sein Lieb, Margit, erschlagen habe.

So hat Margit von Reichenau ihren Schmerz und ihre Klagen durch einen raschen Tod aus Ottos Hand verstummen ge-macht.

Tränenden Auges stand Otto einige Minuten bei der Leiche seiner Braut und lispelte leise Gebete für deren Seelenruhe. Doch die Pflicht ließ ihn hier nicht lange verweilen. Er ermannte sich, trug dichte Reisigzweige herbei und bedeckte damit den entseelten Körper Margaritas. Dann schwang er sich aufs Pferd, um so rascher zu seinen Begleitern zu ge-langen. Diese waren inzwischen schon in das Gesichtsfeld des Kaltensteiner Turmwächters gekommen und durch ihn den Burgbewohnern angemeldet worden.

 

Sigismund stieg bei dieser Kunde die Turmtreppe hinauf, um selbst die Ankommenden zu sehen und dann, je nach der Menge derselben, die vorteilhaftesten Anordnungen zu treffen. Doch wie erschrak er, als er die unerwartet große Zahl der Reiter erblickt hatte. Er, der freche Wegelagerer und Räuber an Wehrlosen und ahnungslosen, begann an einer erfolg-reichen Verteidigung der Burg zu zweifeln, denn er erkannt, dass sein Raubnest viel zu schwache Kräfte habe. Fluchend und verwünschend stieg er deshalb vom Turm herab, rief alle Mannen zusammen und sprach zu den Versammelten: „Die verdammte Horde ist zu stark. Eilige Hilfe tut not. Hagen, schnell die zwei bewussten Pferde her! Wir zwei reiten durch den geheimen Ausgang um Hilfskräfte aus. Ihr übrigen haltet die Fremden vor dem verschlossenen Burgtore möglichst lange hin. Wenn sie sich aber den Eingang erzwingen, dann führt den Befehlshaber zum Burgfräulein Margit; sie weilt sicher noch in der Rüstkammer. Inzwischen kommen wir mit hinreichenden Verteidigungskräften zurück.“

Bald darauf sah Ottos scharfes Auge zwei Reiter hinter der Burg gegen Schwarzwasser sprengen. „Achtung! Junkers! Walter, Robert, Heinrich!“ rief er, „Jagt ihnen nach und bringet sie womöglich lebend in unsere Gewalt!“

 

Im nächsten Augenblick lösten sich die drei angerufenen Ritter vom Haufen los und stürmten den beiden anderen nach, als ob Rosse und Reiter Flügel hätten. Der Zwischen-raum wurde immer kleiner, er war in wenigen Minuten ganz beseitigt. Otto und seine Umgebung konnten deutlich sehen, wie in der Ferne ein Kampf begann. -- Jetzt viel ein Ritter vom Pferde. -- Neuerlich ein Dahinsprengen und Nachjagen. -- Nun stürzt ein zweiter Ritter zu Boden. -- Ein kurzes Verweilen am Kampfplatz noch, und drei Ritter näherten sich dem bischöflichen kleinen Heere.

 

„Wir konnten die zwei Ritter nicht lebend fassen, Ritter Otto,“ meldeten die Zurückgekehrten, denn Sigismund und Hagen wehrten sich wütend. Beide erhielten noch den Gnadenstoß. Doch seht, wie schlau die Reichenauer sind. Ihren Pferden haben sie die Hufeisen verkehrt angenagelt, damit man ihre Wegrichtung nicht so leicht ausfindig mache.“ Bei diesen Worten hoben sie die Füße der zwei erbeuteten Rosse und zeigten den lachenden Reitern den seltsamen Hufbeschlag.

Otto mahnte, ohne recht auf die weiteren Schilderungen der drei Junker zu hören, zum Aufbruch in die Burg Kaltenstein.

Nach längerer Unterredung beim versperrten Burgtore wurde diese geöffnet, und die Bischöflichen konnten ohne jeden Schwertstreich sich des Schlosses und seiner Bewohner habhaft machen. Die Knechte der Reichenauer fügten sich scheinbar bereitwillig den Anordnungen und Befehlen Ottos, weil sie mit Bestimmtheit auf eine baldige Befreiung und Erlösung durch die beiden Kaltensteiner warteten und weil sie ihre gegen-wärtige Zwangslage durch wahnsinniges Sträuben nicht noch gefährlicher gestalten wollten.

 

Otto, der seit seiner einsamen Wanderung über den Berg auffallend still und in sich gekehrt blieb, erließ ruhig aber bestimmt seine Anordnungen. Zwei seiner Mannen ließ er Sigismund und Hagen von Reichenau am Orte ihres Todes zur Erde betten; die Knechte des Raubritters wurden unter sicherer Bewachung nach Neisse zur Verantwortung geführt, Otto selbst aber blieb mit einer erklecklichen Anzahl von Getreuen auf Kaltenstein, um weitere Weisungen seines Herrn abzuwarten.

 

Nun gedachte er wieder seiner toten Braut, die schon zwei Tage, von kühler Waldesluft umfächelt , unbestattet am Berge lag. Seine ritterliche Pflicht hatte er ja erfüllt, deshalb durfte er jetzt unbehindert dem Zuge seines Herzens folgen. Er ließ sein teures Lieb am Berge selbst ehrenvoll und christlich beerdigen, rammte zu Häupten der Toten ein eichenen Pfahl in den Boden und befestigte an diesem ein Bildnis der schmerzensreichen Gottesmutter, als wollte er damit an-deuten, wie groß und gewaltig sein eigener Seelenschmerz war.

 

Fünfundsechzig Jahre vergingen seither. Johannes Thurzo, Koadjuior des damaligen Bischofs Roth, ließ gegen Ende des Jahres 1505 den Kaltenstein zum größten Teile niederreißen, weil die Bewohner als Raubritter den Bischöfen öfters sehr viel zu schaffen gemacht hatten, und führte aus deren Trümmern vor dem Johannesberger Schlosse das bis auf den heutigen Tag erhaltene Plateau auf. Burg Kaltenstein gehört nunmehr der Vergangenheit an. Dort aber, wo die edeldenkende Margarita von Reichenau zu Tode getroffen niederfiel, dort, wo ein Bräutigam seiner Braut ein Denkmal setzte, mit dem Bilde der Jungfrau-Dulderin, dort wurde von späteren Geschlechtern ein kleines Gotteshaus erbaut, und noch gegenwärtig wallt zahlreiches Volk zum herrlichen Kirchlein am Gotteshausberge.

 

Und wer die Sprache des Waldlüftchens versteht, dem erzählen noch jetzt die Bäume am Gotteshausberge von Ritter Otto und Margit von Reichenau.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der schlesische Streuselkuchen

 

 

Eine schlesische „Kärmiß" (Kirchweihfest) ohne duftenden Streuselkuchen ist einfach undenkbar. - Wenn ein Schlesier das Licht der Welt erblickt, die Großmutter muss Streuselkuchen backen, den man beim Taufschmaus unter Lachen und Scherzen verspeist. - Und wenn der Schlesier sein Auge im Tode zugedrückt hat, wenn seine Angehörigen von seinem frischen Grabhügel zurückkehren, der Streuselkuchen darf auch da nicht fehlen, er ist Tröster im Leid, in Gram, er ist Universalheilmittel in allen Schicksalsfällen, für alle Stände und Geschlechter, für jedes Alter und - vielleicht - vielleicht würde sogar mancher eben verstorbene Schlesier noch einmal die Augen aufschlagen und verklärt sprechen: „galt m'r noch a Bräckla!" wenn man ihm einen duftenden Streuselkuchen unter die Nase hielte und dabei fragte: „Magst ärnt a Stieckla?"

 

Über die Entstehung dieses berühmten Gebäcks berichtet uns die Sage:

 

Als in Schlesien noch sehr viel Wälder waren und die menschlichen Ansiedlungen noch nicht so häufig waren wie jetzt, lebten in einzelnen Gegenden in Gebüschen und im Innern einzelner Anhöhen und Felsenhügeln die soge-nannten Venusleute, zwergenhafte Menschengestalten, die gelegentlich auch einzelnen Menschenkindern begegneten und sich diesen oft dienstbar erwiesen. Auch in Friedeberg gab es dereinst solche Venusleute und noch heute kann man am Fuße des Gotteshausberges und in der Nähe der Granitschule die Venussteine, mehrere sitzähnliche Ver-tiefungen, die "Venusnapla", von verschiedenen Größen sehen, die ihren Namen daher führen. Auch sollen Venusweiblein und deren weiße Wäsche in dem Strauchwerk daselbst vor Sonnenaufgang öfters gesehen worden sein.

 

Während sich die Venusmännlein hauptsächlich um die Ordnung und Erhaltung ihres unterirdischen Reiches kümmerten, besorgten die Venusweiblein die Hauswirtschaft und galten als große Meisterinnen in der Kochkunst. Von den Menschen, denen sie ungefähr bis an das Knie reichten, waren sie niemanden mehr zugetan, als den reinen Jungfrauen. Kamen sie mit einer solchen einmal zusammen, dann lehrten sie dieselben die Zubereitung verschiedener Speisen, auch wie man giftige Pilze von essbaren unterscheidet, wie man aus verschiedenen Beeren vorzügliche Weine erzeugen kann und vieles andere.

 

Zu der Zeit, als sich um die Burg Friedeberg Menschen ansiedelten, die an den nahen Berglehnen den Wald lichteten und dort ihre Getreidefelder anlegten, verschwan-den auch die Venusleutchen immer mehr von der Erd-oberfläche, und nur in der Zeit der sogenannten hl. zwölf Nächte, zwischen Weihnachten und dem Dreikönig, traten sie in größerer Anzahl aus ihren unterirdischen Räumen hervor.

 

Nun stand bei einem Bauer bei Friedeberg ein gutes und frommes Mädchen im Dienste, das jede Arbeit zur größten Zufriedenheit der Dienstgeber verrichtete. Deshalb ward sie auch von allen geliebt und geschätzt. Diese junge Magd wurde an einem Frühlingstage auf den Weizenacker am Fuße des Gotteshausberges geschickt, damit sie dort das Unkraut jäte. Wie sie so eine Zeit lang über ihrer Arbeit war, hörte sie aus dem Innern des Hügels ein Klirren und Pinken, wie wenn dort jemand Kuchenbleche über einander würfe oder wenigstens mit solchen unvorsichtig umginge.

 

Die Jungfrau, die schon mancherlei von der Kochkunst der Venusleute gehört hatte, dachte natürlich bei dem seltsamen Geräusch alsbald, dass die Venusweiblein heute über dem Kuchenbacken wären, und unwillkürlich sprach sie so vor sich hin die Bitte: „O ihr geschickten Venusweiblein! Wenn ihr etwa da im Berge Kuchen backt, dann vergesset doch nicht auf mich!"

 

In ihrer Arbeit ließ sie sich jedoch nicht stören, sondern jätete drauf los bis zur Mittagszeit; da unterbrach sie ihren Dienst, ließ ihr Vortuch am Felde liegen und eilte zum Mittagessen in das nahe Bauernhaus. Nach beendigter Mittagsrast kehrte das Mädchen zu ihrer Feldarbeit zurück, doch ihr Erstaunen und ihre Freude war unbeschreiblich, als sie da auf ihrem Vortuch einen herrlich duftenden Kuchen liegen sah, der eben erst aus dem Backofen gekommen zu sein schien. Doch gar bald wurde ihr alles klar, und gerührt rief sie: „Seid schön bedankt, ihr lieben Venusweiblein! Aber allein ihn essen kann ich nicht; ich will den Kuchen am Abend meiner kranken Mutter bringen, damit sie auch eine Freude über euch habe."

 

Und wieder machte sich das Dienstmädchen an ihre Arbeit.

 

Am Abende hüpfte sie voll freudiger Erregung in das Stüblein ihrer kränklichen Mutter und legte den Leckerbissen auf den Tisch. Der armen Frau war noch nie etwas besseres oder gleichwertiges über die Zunge geglitten als dieser Kuchen, und als sie von dessen Herkunft alles genau erfahren hatte, fand sie nicht genug Worte, um der Weiblein Güte und ihre Meisterschaft im Kochen gebührend zu preisen.

 

Bei ihrem Dienstgeber erzählte die gute Tochter nichts von dem Vorfall mit den Venusleuten, nicht einmal dem Bauernsohne, der ihr doch seit längerer Zeit schon eine besondere Aufmerksamkeit zeigte, da er sie im Laufe der Monate als eine kreuzbrave und anstellige Seele kennen gelernt hatte, die sich auch als Bäuerin recht gut bewähren müsste. Auch das Mädchen war dem jungen, schmucken Burschen ganz zugetan, allein, da sie sehr arm war, verheimlichte sie ihre Gefühle, um nur ja kein Öl ins Feuer zu gießen. Als aber der Bauernbursche einmal mit seinen reichen Eltern über seine Herzensangelegenheiten sich aussprach, meinten diese, er hätte noch lange Zeit, ernstlich derartige Fragen in Erwägung zu ziehen und - dem braven Mädchen ward in Kürze der Dienst gekündigt.

 

Traurig wanderte das Dienstmädchen aus dem Hoftor der Bauernwirtschaft. Ihrer Mutter konnte sie nicht zur Last fallen. Es blieb kein anderer Ausweg, als um einen neuen Dienstort sich umzusehen. So ging sie denn mit einem kleinen Bündel am Gotteshausberge vorbei, gerade dort, wo ihr im Frühjahr der saftige Kuchen geschenkt worden war.

 

Der Schnee lag ziemlich hoch auf den Feldern und Bäumen, da es in der Zeit der zwölf Nächte war. Plötzlich stockte der Jungfrau Fuß, denn sie vermerkte, wie aus einer kleinen Erdöffnung winzige Männlein hervorkrochen - eins, zwei, drei, - viele, alle mit runzliger Stirne und ziemlich langem Barte.

Vorsichtig spähten sie umher und erschauten das Mägdelein.

„Wohin des Weges?" fragte einer der kleinen Wichte mit etwas heiserer Stimme.

„Weiß selber nicht," entgegnete die Angeredete. "Ich bin auf der Suche nach einem Dienstorte."

 

Auf diese Antwort hin umringten die zahlreichen Kobolde freudig die Jungfrau und luden sie ein, in ihre Bergwohnung mitzugehen und in den Dienst der dort weilenden Frauen zu treten.

 

Das Mädchen willigte gerne ein, krabbelte mit Mühe durch die Erdöffnung in das Venusreich und stand bald vor einer großen Schar kleiner Weiblein, die in einem feenhaft erleuchteten Saale allerhand Kurzweile trieben.

 

Beim Anblick des neu angekommenen Gastes schlugen die Venusweiblein so vergnügt in die Hände und verrieten eine derartig ungeheuchelte Freude, dass die Jungfrau bald ihre natürliche Scheu und Befangenheit aufgab und sich recht wohl und heimisch fühlte.

 

In kurzen Zeit wurde die Jungfrau in mancherlei Geheimnisse des unterirdischen Lebens eingeführt, ließ sich von den Weiblein alles genau erklären und zeigen, guckte hier und dort manches ab und ehe zwei Monate vergangen waren, verstand sie den Streuselkuchen ebenso schmackhaft und fein zu backen wie ihre Lehrmeisterinnen.

 

Nun hielt es sie nicht länger in dem Berge. Es zog sie heim zu ihrem Mütterlein, und deshalb entwich sie heimlich aus dem Venusreich.

 

Mittlerweile waren die letzten Tage der Faschingszeit gekommen. In allen Häusern wurden Kuchen über Kuchen gebacken, so gut und so schlecht, wie's eben jede einzelne schlesische Kochkünstlerin damals konnte. Auch die einstige Bauernmagd bereitete bei ihrem Mütterchen einen so ausgezeichneten Kuchen, dass alle, die davon im Orte kosteten, voll des Staunens und des Lobes waren. Bald redete es sich herum, welch große Fertigkeit das Mädchen im Kuchenbacken besäße. Auch der reiche Bauer hörte davon, und er hatte nicht eiligeres zu tun, als mit seiner Frau bei seiner früheren Dienerin vorzusprechen und um eine Kostprobe zu bitten.

 

Als er den vorgelegten Kuchenteil gegessen hatte, schnaltze er befriedigt mit der Zunge, schlug mit der derben Faust auf den Tisch und rief: "Sanktus eins!" das war nämlich allemal der Ausdruck seiner höchsten Zufriedenheit.

 

Die Bäuerin redete zwar nichts, schlug auch nicht auf den Tisch, sondern ließ sich den Kuchen in aller Stille schmecken. Endlich stieß sie ihren Mann mit dem Ellenbogen in die Seite und flüsterte: "Du, wenn das Mädel solche Kuchen backen kann, dann könnten wir sie vielleicht doch als Schwieger-tochter brauchen, trotz ihrer Armut."

 

Der Bauer zwinkerte seiner Frau mit den Augen zu, dass er mit ihrem Plane ganz einverstanden sei, ließ auf der Stelle seinen Sohn herbei holen, und teile ihm mit, dass er gar nichts dagegen habe, wenn er jetzt sein ehemaliges Bräutchen als Schwiegertochter heimführte.

 

Der junge Bauernsohn stutzte ob der plötzlichen und unerklärlichen Gesinnungsänderung. Er zupfte ein wenig an seiner Joppe herum und sagte mit einem schelmischen Lächeln: „Vater! sagtet ihr nicht vor einigen Monden, ich hätte noch lange Zeit, über derlei ernste Sachen nachzu-denken?"

 

„Na, natürlich," entgegnete der Alte, „aber heute bist du ja schon ein gutes Vierteljahr älter."

 

„Nun, wenn das so ist, - ich habe nichts dagegen," erwiderte der hochglückliche Bauernbursche und zog die freude-strahlende Jungfrau an sich. Das arme Dienstmädchen wurde eine reiche und glückliche Bäuerin. Sie brauchte sich nicht mehr zu plagen und zu sorgen.

 

Mochten ihr auch mehrere Mägde und Knechte als Hilfskräfte zur Seite stehen' eines ließ sie sich nicht aus der Hand nehmen: das Backen des Streuselkuchens; denn dies verstand auch niemand so gut wie sie.

 

Im Laufe der Jahre aber verbreitete sich das Rezept des Streuselkuchens in Friedeberg immer mehr und mehr und wurde im Laufe der Jahrhunderte Gemeingut fast des ganzen Schlesierlandes.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Burg Friedeberg letzte Tage

 

 

Bischof Przecislaus von Pogarell hatte im Jahre 1358 die Burg Friedeberg von Honko und Wenzel von Haugwitz käuflich erworben, um Land und Volk von dem Drucke und der Plage zu befreien, die von diesen beiden unritterlichen Rittern ausgingen. Einige Jahre vorher hatte er auch die in der Nähe gelegene Burg Kaltenstein mit gleicher Absicht erworben. Auf beiden Burgen setzte er vertrauenswürdige Ritter als Burg-grafen, die als Schützer und Schirmer für Burg, Land und Leute sich bewähren sollten.

 

Wohl wechselten die Besitzer dieser beiden Burgen in rascher Folge, ebenso deren Wert und der Ritter, beziehungsweise der Charakter der Burgbewohner, doch die dichtende Phantasie des Volkes um Friedeberg hat sich um derlei Wandlungen der Geschichte gar wenig gekümmert und nur ein Bild vom Untergang der Burg geschaffen, das hier wiedergegeben werden soll.

Dem Ritter Kuno, Burggrafen auf Friedeberg, hatte die Vorsehung Gottes eine an Geist und Körper edle und hohe Frau als Gemahlin zur Seite gestellt. Der reinste Sonnenschein des Glückes umstrahlte ihn, so oft er von irgend einem Ritt oder von der Jagd in den Burghof einzog, denn mit liebesleuchtenden Augen eilten ihm dann jedes Mal zwei gesunde Söhne und ein munteres Töchterlein entgegen, ihm als Willkommensgruß Stirne und Wange küssend, während die edle Burggräfin am Eingange des Schlosses ihren Gemahl erwartete.

 

Einmal aber kehrte der Burggraf mit traurig gesenktem Haupte heim. In einer Fehde mit räuberlichem Gesindel, zu der ihn sein Erstgeborener als junger Ritter begleitet hatte, musste dieser sein Leben lassen. Des Vaters Schmerz war groß darob, doch er sollte noch größer werden; denn es wechselte die Erde nicht gar oft ihr Gewand und eine Krankheit raffte seine treue, gute Gattin und den zweiten Sohn dahin. So war ihm denn vom früheren ehelichen Glücke nicht anderes geblieben, als das jüngste Kind, das vierzehnjährige Töchterlein Wanda, das ein getreues Abbild der tückisch dahingerafften Mutter war.

Nächst Gott war nunmehr Jungfrau Wanda das teuerste und höchste Gut für Ritter Kuno.

Eines Tages, da gerade Edelfräulein Wanda ihren Vater die ernsten Bedenken durch sanftes Harfenspiel und lieblichen Gesang zu verscheuchen suchte, wurde freundschaftlicher Besuch angekündigt.

 

Ein zarter Jüngling, begleitet von einem älteren Manne aus dem Knappenstande, trat in das Gemach des Grafen, blieb aber beim Eingange ehrfürchtig stehen und verneigte sich tief vor Kuno und dem Burgfräulein.

 

Kuno sah die Ankömmlinge an und rief: „Konrad, seid ihr’s?“

„Ja, vieledler Graf, ich bin’s; Konrad von Kaldenstein, der einzige Sohn eures besten Freundes und Nachbars. Hier mein treuer Diener, meines Vaters ältester Knappe,“ erklärte der Jüngere.

„Welcher Anlass führt euch denn her? Was macht denn mein Freund, Graf Konrad?“

„Edler Burggraf! Mein Vater, Konrad von Kaldenstein, hat das Zeitliche mit dem Ewigen vertauscht und mich als Waise hier diesem braven Knappen übergeben. Am Sterbebette hat er euch, seinen viel geprüften und bewährten Freund bitten lassen, an mir ein zweiter Vater sein zu wollen.“

 

Kuno fuhr dem jungen Grafensohn mit der Hand mitleidig über den Scheitel. „Gott tröste euch, edler Jüngling“, sprach er „seid versichert, dass euer Vater an mich nicht vergeblich seine Bitte gerichtet hat. Seid mir also beide recht herzlich willkommen! Und ihr, Graf Konrad, sollt mir von jetzt an nicht mehr Freundessohn sein, nein - du bist - mein Sohn. Hier deine nunmehrige Schwester Wanda.“

 

Das Burgfräulein errötete, als der junge Graf und sein Knappe mit edlem Anstande sich vor ihr verneigten und sie als Schwester und Herrin begrüßten. Doch die anfängliche Schüchternheit dauerte nicht lange bei beiden jungen Leuten. Konrad fühlte mit der Zeit keinen Unterschied zwischen einst und jetzt, und auch der alte Knappe war auf der Burg Friedeberg wie daheim und dies um so mehr, da er im Auftrage des Burggrafen Kuno den jungen Kaldensteiner in der Führung der Waffen zu belehren hatte. Lesen und Schreiben lernte Konrad bei dem Burggeistlichen, die freie Zeit verbrachte er im brüderlichen Verkehr mit Wanda.

 

Aus der geschwisterlichen Freundschaft entwickelte sich allgemach die zärtliche gegenseitige Neigung.

Da starb Wandas Vater und ein weitläufiger Verwandter wurde nun zum Burgverweser und gleichzeitig zum Vormund des Burgfräuleins bestellt. Allerdings sollte er nur so lange die Burg Friedeberg verwalten, bis sein Mündel Wanda eine Wahl fürs Leben getroffen hätte.

Der weitere Verwandte brachte bei seinem Einzuge einen Sohn mit, der von der Natur ziemlich stiefmütterlich behandelt worden war. Trotz seiner achtzehn Lebensjahre war er kaum größer als ein elfjähriger Knabe; sein kurzer Rumpf, mit einem Höcker am Rücken, wurde von zwei verhältnismäßig hohen Beinen getragen. Als dieser Sohn Wanda sah, entbrannte er in heißer Liebe zu ihr und erklärte seinem Vater, dass er alles  versuchen werde, um das liebliche Fräulein als Frau für sich zu gewinnen.

 

Der Vater war mit dem Plane seines Sohnes ganz einverstanden, denn er passte vortrefflich zu seiner eigenen Absicht; durch eine Heirat hoffte er nämlich, die Burggrafschaft an seine Familie zu bringen.

Nun merkte aber Wanda gar bald die eigensüchtigen und niedrigen Absichten der beiden und dies widerte sie an. Dieser Widerwille gegen den neuen Freier wurde bei Wanda von Monat zu Monat um so größer, als bei jeder Arbeit und Erholung, bei jeden Gespräche und Spiele, beim Essen und Trinken seine seelische Verbildung und Hässlichkeit immer deutlicher zu Tage kam.

Der Vormund wartete längere Zeit zu. Endlich suchte er Wandas Gesinnungen gegen seinen Sohn auszuforschen und fragte sie ganz offen, ob sie nicht geneigt wäre, diesen zu

ehelichen. Doch da kam er ganz schlimm an. Denn Wanda erklärte ganz unumwunden, dass hier jede Mühe ver-schwendet wäre, weil sie bereits gewählt und Herz und Hand Konrad von Kaltenstein versprochen habe.

Der Burgverweser schluckte die bittere Pille und trug gegen alle Hausgenossen eine unveränderte Haltung zu Schau.

 

Einmal wurde im Gebirge eine Bärenjagd gehalten, zu der auch der Burgwart und der stämmige Konrad frohgemut ausgezogen waren. Wohl kehrte der Alte wieder heim vom gefährlichen Treiben, allein Konrad ward nicht mehr von der sehnsüchtig wartenden Wanda gesehen, denn, so berichtete voll Trauer der Vormund, ein Bär hätte unglücklicher Weise den jungen Ritter zerrissen und fortgeschleppt, bevor jemand aus der Jagdgesellschaft hätte zu Hilfe eilen können.

Wandas Trauer war grenzenlos. In ihren schönen Hoffnungen gebrochen und dem beständigen und ungestümen Drängen nachgebend, willigte sie endlich in die unglückliche Ehe.

Eine Lange Zeit verging. Wandas Wangenröslein bleichten offensichtlich in der Umgebung ihres ungeliebten Gemahls. Doch noch eine andere Seele härmte sich ab; es war der alte Knappe, der mit dem jungen Kaltensteiner auf Burg Friede-berg gekommen war. In seine ernsten Gedanken und Erinnerungen an frühere schöne Tage, da Konrad noch lebte, vertieft, erging er sich einmal im Burghofe. Da ließ ihn plötzlich ein gedämpfter Gesang aufhorchen.

Der Knappe lauscht - lauscht.

Aus dem Burgverlies dringt ein Lied zu ihm herauf. -

Die Melodie des Liedes ist ihm bekannt; es ist ein Sehn-suchtslied, ein Ausdruck des heißen Verlangens nach Freiheit und Glück. Und er horcht angestrengter. - Der Sang ist so weich, so schmerzend, wie wenn das Bergwässerlein leicht über Kiesel und Wurzeln springt, wie einst der vom Bären zerfleischte Konrad gesungen, genau so, wie - wenn - der Gesang käme aus dem Munde seines Konrad.

 

Freudentränen erglänzten in des alten Knappens Augen.

Unauffällig beobachtete er nun den Turmwart, der täglich Essen in das Burgverlies trägt. Durch freundliche Worte und reichliche Mühe brachte er es endlich aus ihm, dass da unter im finsteren Kerker tatsächlich Konrad von Kaltenstein schmachte, der durch Wandas Vormund tückisch hineinge-worfen ward.

 

Jetzt hatte der Knappe keine Ruhe mehr. Konrad sollte, musste frei werden. Alle Bedenken des Turmwartes wurden beseitigt, er selbst so weit gefügig gemacht, dass er Konrad entkommen ließ, der sich in der ersten Zeit bei einem Bauer, den er in früheren Tagen zu Danke verpflichtet hatte, verborgen hielt.

 

Der Bauer knirschte mit den Zähnen, als er die hinterlistige und ruchlose Tat des Burgverwesers vernommen hatte. Heimlich meldete er dies anderen vertrauenswürdigen Männern, die ja alle den gewaltigen Unterschied zwischen dem jetzigen rohen Herrn und dem früheren Burggrafen Kuno hatten am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Bald hatten sich die erbitterten und entrüsteten Ortsbewohner zusammen gefunden, zogen gegen die Burg und erzwangen sich den Einlass.

Der heimtückische Vormund erkannte nur zu gut, dass er den erzürnten Bauern nicht zu unterhandeln wäre und dass bei der geringen Besatzung des Schlosses an eine Abwendung der Gefahr nicht zu denken, dass vielmehr das Schlimmste zu befürchten sei. Sein schwarzes Herz fasste einen abscheulichen Gedanken: Wanda, die von der aufgeregten Menge stürmisch verlangt wurde, sollte von seinem Sohne nicht getrennt werden, sondern mit ihm sterben und ins Verderben gerissen werden.

 

Er führte sie auf den Söller und ließ sodann durch seine Knechte die Burg in Brand stecken. Gierig leckten die Feuerzungen an Mauer und Holz. Krachend und prasselnd stürzten Gebälk und Dächer ein und begruben unter ihrer Wucht, was sich nicht rechtzeitig gerettet hatte. Auch der Burgherr und sein Sohn verbrannten in des Feuers Glut.

In diesem allgemeinen Wirrwarr sprang Wanda vom Söller hinab. Sie fiel zwar unsanft, doch kostete sie der Sprung nicht das Leben, denn ihre Kleider mäßigten den Anprall.

 

Die Burg brannte vollständig nieder, ohne dass etwas zu deren Rettung unternommen worden wäre. Nur der Turm, in dem Konrad geschmachtet hatte, trotzte der Gewalt des Feuers und wurde später als Kirchturm verwertet.

 

Wanda aber und Konrad lebten noch lange in glücklicher Ehe in Kaltenstein.

 

 

Der steinerne Junge auf dem Koblitzberge

 

 

Klare, fleckenlose Bläue wölbte sich über die Ortschaft Koblitzdorf, oder Kobelsdorf, und seine Umgebung. Einem frischen, im rosigen Wolkenmeer gebadeten Morgen, war ein herrlicher Sommer-Sonnentag gefolgt, der Bächlein und Uferränder, Gräser und Blumen, Wiesen und Kornfelder, Kuppen und Hügel, Sträucher und Wälder verschwenderisch mit Sonnensilberglanz übergoss, der von den Wipfeln der überaus zahlreichen Nadelbäume mit schier sichtlicher Gier eingesogen wurde. Es war ein recht schöner, echt schlesischer Tag des heiligen Friedens, des ungetrübtesten Glückes jener Zeit, da um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts das Geschlecht Koblitz im heutigen Jungferndorf sesshaft war.

 

So weit das Auge reichte, gehörte alles unter die Botmäßigkeit der gütigen Herrschaft von Koblitz, die ihre Untergebenen und Dienstleute nicht nur als Arbeitskräfte nach Recht und Billigkeit rücksichtsvoll verwendete, sondern auch für deren seelisches und körperliches Wohl treu besorgt war. Infolge dessen lebten auch die Herren und Untergebenen im schönsten und ruhigsten Einvernehmen mit einander, es bedurfte gewöhnlich erst keiner langen und lauten Befehle, keines Polterns und Schimpfens, vielmehr wusste jeder seine Tagesaufgabe und seine Pflicht, die man auch gerne und freudig restlos erfüllte. Die Diener sahen, dass die Herrschaft unauffällig Gott und ihren gebe, was Gott und der Dienerschaft gebührte, weshalb auch sie Gott, dem Herrn und ihren ritterlichen Vorgesetzten leisteten, was sie als Christen und Untergebene zu tun verpflichtet waren.

 

Gab's ein oder das andere Mal irgend etwas, was nicht ganz nach Wunsch und Willen der Dienstleute war, dann waren die Besonnenen fest davon überzeugt, dass die Schuld nicht die Herrschaft treffe, sondern unabänderliche Umstände und Verhältnisse diese oder jene Unannehmlichkeit mit sich gebracht hatten. Freilich fanden sich dann auch meist vereinzelte Hitzköpfe und zungenfertige Polterköpfe, die untereinander oder geheim ihre Unzufriedenheit und ihren Zorn durch Zanken, Fluchen und Kritisieren zum Ausdrucke brachten. Zu letzteren gehörte auch der ungefähr vierzehnjährige Kuhhirte Ignaz, der an dem herrlichen Sommertage seine Herde auf den Koblitzberg zur Weide führte.  Diese Aufgabe, das Vieh zu hüten, sagte ihm zu.

 

Obgleich einfacher Arbeitsleute Kind, verspürte er in seinen Adern nicht einen Funken von Arbeitsfreude und Arbeitslust. Vater und Mutter waren weggestorben, ehe das Knäblein noch das vierte Lebensjahr vollendet hatte. Die Großmutter des Kindes, eine zwar gutmütige aber willensschwache ältere Frau, nahm sich des Jungens an, sorgte für dessen Gesundheit und Leben mit aller frauenhaft übertriebenen Liebe und Aufmerksamkeit, verbildete jedoch seine Seele und sein Gemüt. Zu keinem Handgriff, wäre er auch noch so einfach und leicht, leitete sie ihn an; jeder Wunsch wurde erfüllt, jeder Laune nachgegeben mit der Begründung: der Knabe sei noch dumm und schwach und dürfe daher nicht gar so streng erzogen werden. Zeigte sich das Kind zornig und vergoss es schreiend einige Tränen des kindlichen Grolles, dann war die Großmutter sofort liebkosend zur Stelle, duldete ohne Zurechtweisung, dass es mit seinen Fäusten ihr auf Kopf und Gesicht herumtrommelte und dachte bei sich: wenn man dem Kinde nach Willen tut, hört es auf zu schreien. Die besten Bissen wurden dem Ignaz gegeben, damit er nur ja nicht etwa an einem geringeren oder weniger fetten Brocken ersticke.

 

Zum Unglück für den Knaben starb auch die Großmutter und Ignaz war nunmehr plötzlich auf sich allein angewiesen, zu einer Lebenszeit, da er die Kinderschuhe ausziehen und ein Jüngling werden sollte. Die gütige Herrschaft von Koblitz erkannte das grenzenlose Unvermögen des Jungen und verwendete ihn vorläufig als Kuhjunge, denn da brauchte er nur das Auge wachsam herum schweifen zu lassen und die sich etwa verlaufenden Tiere durch einen vorzüglich abgerichteten Schäferhund zurückzuholen.

 

So lag nun der Hirten-Naz träumend am Koblitzberge im Grase und ging seiner liebsten Beschäftigung nach: er blickte ins Leere hinein und dachte an nichts. Friedlich grasten seine Schutzbefohlenen, die Rinder und Ziegen um ihn her, treu behütet von dem zottigen Schäferhund, der tatsächlich mehr Schäferdienste leisten musste, als gewöhnliche Schäferhunde, da er gleichzeitig die Nachlässigkeit und Trägheit des Hirtenjungen wett machen musste.

 

Plötzlich schlug Phnlar an.

 

Ein Mädchen vom Gute der Koblitz kam auf den Hirten-Naz zugesprungen und brachte eine zur Hälfte gefüllte Hirtentasche, die der Knabe beim Fortgehen in seiner ge-wohnten Gedankenlosigkeit daheim vergessen hatte.

 

„Was bringst du da, Hanne?" fragte Naz gedehnt, indem er langsam den Kopf vom Erdboden hob.

„Dein Frühstücksbrot," antwortete das Mädchen. "Der Stallknecht schickt es dir nach, weil er fürchtet, du könntest bis zur Hauptmahlzeit verhungern."

„Dann leg's nur schön nieder, da knapp neben mich, damit ich beim Essen erst nicht aufstehen müsste. Soo, - ja, so ist's recht. Weißt, Hanne, der schönste Teil meiner vielen und schweren Arbeit ist doch allemal die Mahlzeit. Sag mal daheim, man möchte heute etwas gutes zum Essen vorbereiten, denn ich werde einen Hunger mitbringen, einen wahren Wolfshunger.

„Ich will's ausrichten, Naz," rief das Mädchen und lief geschäftig davon.

Naz blieb noch lange Zeit am Boden liegen; endlich erinnerte Phnlar, der an der Hirtentasche herumschnupperte, mit dem Schweife luftig wedelte und ein Freudengebell hören ließ, den Jungen, dass es da etwas zum Essen gebe und veranlasste ihn, nach dem Inhalt zu sehen. So erhob er sich in sitzende Stellung, öffnete umständlich die Hirtentasche und zog ein kleines Brot hervor. Beim weiteren Suchen fand er noch ein Gefäß mit frischen Quarge, sonst aber nichts mehr. Schon zog er ein einfaches Messer aus dem Wamse hervor, um das Brot anzuschneiden, doch plötzlich warf er alles zornig zu Boden und sprach unter Zähneknirschen vor sich hin: „So etwas zu essen bin ich nicht gewohnt. - Brot und Quark! - Das hat mir meine Großmutter selig niemals gereicht! - Wo ist denn die Butter? - Ha, Butter, Butter will ich haben."

 

Unwillig sprang er auf die Beine und kehrte den auf der Erde liegenden Nahrungsmitteln trotzig den Rücken. „Man sagt: Quark kühle," knurrte er weiter, „und Butter hitze; mag sein! Ich aber will Butter, Butter, Butter, und wenn ich dabei verbrennen sollte."

 

Während er so greinte und polterte, fiel sein Blick auf die vor ihm liegende Peitsche. Diese hob er auf und ließ sie einige Male erzürnt durch die Luft spielen, dass sie nur so pfiff und sauste. Dann sprang er auf das verachtete Frühstück zu, hieb auf das Brot wahnwitzig los, indem er schrie: „Brot, hol mir Butter! Brot, hol mir Butter!"

  

Beim ersten Schlage verspürte der Hirten-Naz einen brennenden Schmerz in seinen Beinen; doch dessen nicht achtend, schlug er ein zweites, ein drittes Mal auf das Brot mit der Peitsche.

Zu einem vierten Hiebe konnte er nicht mehr ausholen, denn er versteinerte während seiner Freveltat erst an den Beinen, dann bis zur Brust und schließlich bis zum Scheitel, so dass er, in eine Steinsäule verwandelt, sich nicht mehr bewegen konnte.

 

Auf dem Gute der Herrschaft Koblitz wartete man zur Mittagszeit auf die Rückkehr Nazens und der Herde. Es verging eine Spanne Zeit um die andere, von dem Erwarteten aber war immer noch nichts zu sehen und zu hören. Schon wollte der Stallknecht Hanne nach dem saumseligen Kuhjungen ausschicken, da wurde Phnlarens Stimme im Hofe laut; er hatte zur gewohnten Zeit, wenn auch etwas verspätet, allein die Herde heimgetrieben. In der Gesindestube benahm er sich jedoch so eigentümlich ängstlich und traurig, dass ein Teil der Dienstleute dem voraneilenden Hunde folgte und bis zum Koblitzberge ging, wo man eine bisher nie gesehene Steinsäule mit Staunen und Grauen vorfand. Im Grase lag noch das Gefäß mit dem unberührtem Quarge und das Brot, um das der Peitschenriemen gewunden war.

 

Die Steinsäule steht noch heute auf dem Koblitzberge als wettertrotzendes Mahnzeichen und wird vom Volke allgemein genannt: der steinerne Junge.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Letzten aus dem Geschlechte Koblitz

 

 

Als Rüdiger Heldore die Stadt Weidenau im Anfange des dreizehnten Jahrhunderts angelegt hatte, erhielt er als Zeichen bischöflicher Anerkennung das Vogteirecht nicht nur über die Stadt selbst, sondern auch über die angrenzenden Dörfer, unter die auch eine Ansiedlung gerechnet wird, die heute den Namen Jungferndorf trägt. Um diese Zeit aber ging das Streben der Bischöfe von Breslau dahin, das noch meist beforstete Schlesien aus dem Dunkel des Urwaldes heraus-zuführen und es von der Glückssonne deutschen Könnens und Schaffens bestrahlen zu lassen. Dieses Streben der Bischöfe wurde natürlich auch von den einzelnen Vögten unterstützt und gefördert, so dass von ihnen in die einzelnen Dörfer, die der städtischen Gerichtsbarkeit untergeordnet waren, verläss-liche und mit der deutschen Naturalwirtschaft wohl vertraute Männer geschickt wurden, die für Durchführung und Erhaltung der religiösen und wirtschaftlichen Grundsätze gewissenhaft Sorge tragen sollten.

 

So ward auch in eine kleine Ansiedlung zwischen Weidenau und Friedeberg Herr Godefried Koblitz von Rüdiger Heldore als Vertrauensperson gesandt, der zunächst für möglichst ausgiebige und erträgliche Bewirtschaftung des Waldbodens seine Kräfte verwendete. Bald jedoch zeigte es sich, dass die wenigen, ortsansässigen Leute nicht ausreichten, um in gewünscht rascher Weise das wilde Hügelland urbar zu machen; daher wurden durch Vermittlung des Bischofs Lorenz vom Herzog Heinrich I. und dessen Nachfolger deutsche Ansiedler in die sich entwickelnde kleine Ortschaft gesandt, die nunmehr in verhältnismäßig wenigen Jahren zu einem friedlichen und schönen Dörfchen ausgebaut ward.

 

Ein Herrschaftshaus nahm Godefried Koblitz und seine Familie auf; um dieses Gebäude gruppierten sich Wohnungen der Hörigen, Wirtschaftsräume, Stallungen und manches andere. Hie und da leuchteten reinliche Hütten und weiß getünchte gemauerte Wohnhäuschen im Glanze der Sonne und gaben Zeugnis dafür, dass menschliche Willenskraft und gesunde Glieder die Herrschaft erzwingen können selbst über Baumriesen und Urwälder.

 

Die Bewohner des Ortes nannten das neu entwickelte Dörfchen nach dem Herrn mit Vorliebe: Koblitzdorf, welche Bezeich-nung durch mehr als zwei Jahrhunderte beibehalten wurde, bis sie endlich um das Jahr 1500 dem noch jetzt geltenden Namen Jungferndorf weichen musste.

 

Die Nachkommen des Godefried Koblitz hatten sich während der zwei folgenden Jahrhunderte in ihrem bischöflichen Dienste und in der Verwaltung des Dorfes so treu und tüchtig erwiesen, dass ihnen ein Teil des Dorfes als Allodial-Rittersitz übergeben wurde, sie selbst also die Würde eines ritterlichen Geschlechts erhielten.

 

Doch was konnte diese Anerkennung der Treue dem letzten männlichen Spross aus dem Blute der Koblitz nützen, da die Vorsehung ihm wohl drei Töchter aber keinen Stammhalter gewährt hatte.

  

So saß denn der letzte Koblitz einst nachdenklich im schwellenden Sorgenstuhl, der in der Nähe eines Fensters des geräumigen Zimmers stand.

 

Sein Haupt, von der Jahre Zahl und Sorge etwas gealtert, neigte sich zur Brust herab, jedoch nicht so tief, dass das noch scharfe Auge die edle Frauengestalt nicht hätte forschend ansehen können, die ihm gegenüber am Eckfenster saß und an einen Wäschestück emsig arbeitete.

  

 „Rosa!" redete der Alte die blühende und jugendliche Person an, wärest du bereit, mir einen schweren Kummer vom Herzen zu heben?"

 

„Jeden, lieber Vater, jeden, selbst den schwersten und drückensten, wenn meine schwachen Mädchenkräfte hin-reichen," entgegnete die Tochter in sanften Tone. "Was bereitet euch denn so große Sorge, dass ihr seit längerer Zeit nicht mehr recht heiter sein könnt? Wir Kinder merkten die Ver-änderung in eurem Wesen recht deutlich, ohne bisher eine stichhaltige Erklärung dafür zu finden. Sagt, guter Vater, fühlt ihr euch etwa unwohl und krank?"

 

„Nein, meine Tochter! Krank bin ich nicht, das heißt, mein Leib ist bis jetzt noch gesund, allein meine Seele - meine Seele, die trägt ein Wehe, das nur durch dich allein geheilt werden könnte."

 

„Nur durch mich?" forschte Rosa erstaunt.

 

„Ja! - Nur durch dich," betonte der Alte Wort für Wort; „weil du, Rosa, mein Liebling bist, von dem allein ich alter Mann die Erfüllung meines sehnlichsten Herzenswunsches erwarten darf."

 

„Und Marianne und Therese? - Sind die nicht ebenso gut deine Kinder wie ich? Sollten diese meine älteren Schwestern nichts beitragen können zur Ausführung deines Begehrens?"

 

„Wohl könnten sie's allein, so viel und so inständig ich sie auch darum schon gebeten habe, sie haben nur eine ab-schlägige Antwort für mich."

 

„Sonderbar, guter Vater!" sprach Rosa kopfschüttelnd, "da ich meine Schwestern doch nur als gehorsame und liebevolle Kinder kenne."

 

„Ja, gehorsam, lieb, ehrfurchtsvoll, treu besorgt um mich und auch sonst recht brav sind sie, aber für die Worte meines besorgten Herzens sind sie taub,“ entgegnete mit einer sichtlichen Befangenheit der Vater.

 

Rosa ließ ihre Handarbeit am Fensterbrett liegen, trat nahe an ihren bekümmerten Vater heran, strich mit ihrer Hand sanft über dessen Stirn und Wangen und bat ihn, den Kummer ihr mitzuteilen.

„Schau, mein liebes Töchterchen!" hub der alte Koblitz bedächtig an; „du kannst doch nicht immer hier im Hause nur die Tochter des alten Vaters sein. Wie schön wären meine späteren Tage, wenn - nun, wenn ich einen Enkel, ein munteres Knäblein, als Großvater auf meinem Schoße schaukeln dürfte und zwar möglichst bald, - denn ich bin alt und wenn ich das Gut, das Koblitz-Treue sich erworben, an keinen männlichen Nachkommen vererben kann, dann hat unser Geschlecht am längsten hier gewohnt und Fremde werden sich bereichern vom Boden, der mit unserem Schweiße seit mehr als zweihundert Jahren benetzt wird. O es wäre dies jammerschade."

 

„Ei, Vater, lasst solche Grillen! Gott wird ja auch für die Zukunft sorgen, da er uns bisher noch nicht verlassen hat," suchte die Tochter zu trösten. „Was liegt denn daran, wenn wirklich einmal ein ander Geschlecht auf diesem Gute seinen Einzug hält?"

 

„Kind! wie töricht du redest!" entgegnete der Vater. „Du bist noch zu jung und unerfahren und weißt deshalb nicht, wie unerlässlich das Rittergut hier für euch ist und wie anderseits wieder das Dorf in den früheren Zustand zurücksinken muss, wenn einmal unser Geschlecht - ich kann den Gedanken nicht ausdenken - wenn das Geschlecht Koblitz nicht mehr ist."

 

„Vater, daran denkt ja niemand. Es sind ja doch drei erwachsene Töchter da, die....."

 

„Und zwei von ihnen wollen von einer Heirat nichts wissen," unterbrach der Alte seine Tochter, „und die dritte? - Rosa, willst du wenigstens meinen heißen Wunsch erfüllen und einen schmucken Bräutigam die Hand zum Lebensbunde reichen, ehe meine Tage zu Ende gehen?"

 

„Ach, Vater, redet doch nicht von eurem Tode!" erwiderte ausweichend Rosa. „Wir hoffen, euch noch recht lange in unserer Mitte zu haben und können als freie Jungfrauen euren Lebensabend viel schöner gestalten, als wenn wir etwa durch Ehemänner gebunden und in unserer Kindesliebe gestört wären. - Schließlich will ich meine beiden anderen Schwestern hereinrufen und mit ihnen unsere und des Gutes Zukunft beraten."

 

Bei diesen Worten sprang Rosa sorglos zur Türe hinaus. Der alte Koblitz jedoch stand erregt aus dem Lehnstuhle auf, schüttelte unzufrieden den Kopf und murmelte vor sich hin: „Mich straft der Herr mit meinen eigenen Zuchtruten. Damals, als meine Ehefrau starb, damals dachte ich nur an meinen Vorteil und ließ meine erstgeborenen Töchter nicht heiraten, obwohl ganz angesehene und untadelige Werber sowohl um Theresens als auch um Mariannens Hand anhielten. Ich sah damals meiner Kinder stillen Gram und ich - blieb kalt, eigennützig, wollte nur mein Glück - sie sollten mir das Hauswesen leiten, mich betreuen und durch ihre Kindesliebe meine Tage vergolden. Ich Tor! Ich setzte gefühllos meinen Fuß auf zwei Mädchenherzen, die in zarter Frauenliebe edlen Jünglingen sanft entgegenschlugen. Und jetzt, - und jetzt, da meine Lebensuhr sichtlich zu Ende läuft - jetzt stehe ich da ohne Hoffnung, ohne männlichen Erben, nun selber ein zertretenes und gequältes Herz im Busen tragend. - O, es war ein schwarzes Unrecht, und der Gerechte im Himmel rächt gar empfindlich an mir die Kälte und die abscheuliche Selbstsucht. - Rosa, das gute Kind, weiß glück-licher Weise von all dem gar nichts."

 

Der Alte ließ sich wieder im Sorgenstuhle nieder und starrte wie geistesabwesend vor sich hin, bis Rosa nach geraumer Zeit wieder in das Zimmer zurückkehrte. Nun musste er aus dem Munde seiner jüngstens Tochter vernehmen, dass Marianne und Therese entschlossen seien, ihre ungeteilte Liebe, alle ihre Kräfte einzig und allein dem Vater zu weihen, wie er es vor Jahren von ihnen gewünscht und gefordert habe, und dass sie von diesem Vorhaben nicht einmal um Haaresbreite abgehen dürften, weil sie sich hiezu durch ein Gelübde verpflichtet hätten.

 

Koblitz stöhnte auf.

 

Mit tränenfeuchtem Auge schaute er Rosa an und erkundigte sich, ob etwa auch sie nach dem Beispiele ihrer Schwestern ein Versprechen dauernder Jungfräulichkeit gemacht hätte; und als die Frage verneint ward, ergriff er krampfhaft Rosas beide Hände und stieß stockend hervor: „Dem Herrn sei Dank! - Rosa, mein Kind! - Meine letzte Zuflucht! - Meine einzige Hoffnung! Du bist jetzt zwanzig Jahre als und ich will - nun, will dich geborgen wissen, ehe ich sterbe. Der Sohn des Kaltensteiners, Hagen von Reichenau, hat vor einigen Tagen um deine Hand geworben und will morgen wiederkommen, um sich bestimmten Bescheid zu holen."

 

Rosa erbleichte ob dieser Mitteilung. Sie wusste, dass der Kaltensteiner im Rufe eines unehrlichen und sittenlosen Wüstlings stehe und konnte deshalb anfangs nicht verstehen, wie der Vater ernstlich daran denken könne, auch nur eines seiner Kinder, und sogar sie, an einen solchen Schwiegersohn zu verkuppeln. Nun war's ihr plötzlich klar geworden, dass nicht väterliche Liebe und Sorge zu seinen Töchtern, sondern nur kalt berechnender Eigennutz und hässliche Selbstliebe ihn treibe und zum Lügner und Heuchler an seien Kindern mache. Deshalb erfasste ein namenloser Schmerz und trotzige Verbitterung des Mädchens zitternde Seele mit solcher Gewalt, dass es trotz aller angestrengten Bemühungen kein einziges Wort über die Lippen bringen konnte.

 

Der Vater merkte die Wirkung seiner Mitteilung und fast reute es ihn, ein solches Ansinnen an Rosa gestellt zu haben. Doch nur allzu bald gewann der schwarze Eigensinn des Alten die Oberhand und heiser kam's aus seinem Munde: „ Nicht wahr, Roserl, mein goldenes Kind, du bist mit der Werbung des schmucken Ritters einverstanden und nimmst dadurch den drückenden Kummer, dass nach meinem Tode kein Fremder auf dem Gute der Koblitz Herrenrechte ausübe, von meinem Herzen?"

 

Rosa umschlang mit beiden Armen des Vaters Hals, lehnte ihr Köpfchen an dessen bärtige Wange und schluchzte: „Vater! Lieber Vater! Hab Erbarmen mit mir - deinem eigenen Blute! - Ich kann nicht, - ich kann wirklich nicht."

„Du kannst nicht?" rief jetzt der alte Koblitz auffahrend. „Sage doch lieber, du willst nicht, weil du den greisen Vater nicht liebst, weil du das vierte göttliche Gebot mit Füßen trittst."

„Nicht doch, aber diesen Hagen kann ich nicht heiraten."

„Nun dann befehle ich dir: Du musst ihn zum Ehegemahl nehmen! - Hörst du? - Du musst, musst - "

„Und wenn ich es tun muss, dann - " Rosas Augen erhoben sich gegen den Himmel, - „dann wird Die dort oben mehr Liebe mir zeigen, als du, Vater."

 

Gebrochen ging die gezwungene Braut aus dem Zimmer, ihr tiefwundes Herz aber schrie auf im wilden Weh: ich muss - ich muss!-

Der Abend kam.

 

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten vier Personen, die im geräumigen Zimmer des Koblitz'schen Herrschaftshauses um einen Eichentisch verstimmt und einsilbig beim einfachen Abendimbiss saßen. Es kostete allen, dem alten Koblitz als auch seinen drei Töchtern, diesmal augenscheinlich viel Mühe, das Essen zu verzehren, so dass es bereits finster geworden war, ehe der Danksegen nach dem Abendbrot gesprochen werden konnte.

 

Da brachte ein Diener eine Öllampe in das Gemach und stellte sie auf den Tisch.

 

„Hast du meinen Auftrag auch genau ausgeführt?" fragte barsch der Hausherr den Eintretenden. „Ist auch das Spielbrett nicht vergessen, das du mir leihen solltest vom Herrn in Dominiksdorf? Ich brauche es morgen notwendig zu einem Spielchen mit dem Herren von Kaltenstein. Hagen von Reichenau würde es mir sehr übel nehmen, wenn er hier seine Fertigkeit im Spiele nicht zeigen könnte; der gute, lieb Junge!

- Wie ? du schweigst?"

„Herr! entgegnete schüchtern der Diener, „alles ist besorgt und in Ordnung; nur das Spielbrett find ich jetzt nicht mehr. Ich muss es schier vergessen haben dort im dichten Walde, wo steil die Felsen niedergehn zum Bach, und wo ich beim Erlöserbilde einige Minuten betete um euer Wohl und um das Glück des Hauses. Verzeihet, Herr, die Lässigkeit dem Diener! Beim ersten Morgengrauen will ich nach kurzer Nachtruhe zur Stelle schaffen, was ich heute verloren habe."

 

Blutigroter Zorn übergoss des Alten Angesicht bei dieser Nachricht. Aus seinen Augen flammten vernichtende Blitze, während er mit grollender Stimme den Diener anschrie: „Was? Morgen? Elender? du wagst es, mir, dem Herrn von Koblitzdorf, den Zeitpunkt zu bestimmen, wann du das Brett suchen willst? Heute noch, heute gehst du hin und bringst das unerlässliche Spielbrett her, wenn dir dein Leben lieb ist. Nichtsnutziger! Ich schwöre es: entweder bringst du augenblicklich das Verlorene, oder ich lasse dich zu Tode prügeln."

 

Der Alte ging nach diesen Worten in höchster Aufregung aus dem Gemach, ohne auch nur einen kurzen Gruß an seine Töchter gerichtet zu haben. Doch diese bewahrten ihre Ruhe. Wussten sie doch nur all zu gut, dass nicht so sehr der Diener und das Spielbrett, sondern des Vaters Heiratspläne und ihre eigene Stellungnahme hiezu die wahnsinnigen Zornesäußer-ungen verschuldet hatten. Deshalb suchten die drei Jung-frauen den bestürzten und zitternden Diener zu trösten und zu beruhigen und sagten, er könne unbesorgt bis zum nächsten Morgen mit der Ausführung des im Zorn erteilten Auftrages warten.

 

Marianne und Theresia räumten den Tisch ab und ließen ihre jüngste Schwester mit dem Diener allein im Zimmer.

 

„Ach Gott!" jammerte der junge Mann, "es ist doch meine Pflicht, meinem Herrn Gehorsam zu leisten und sofort nach dem Brette zu forschen. Doch jener Wald! Er ist in der Nacht nicht recht geheuer. Wie viele Menschen fanden in den letzten Monaten dort einen rätselhaften Tod! Sollte mir heute ein gleiches Unglück begegnen, dann stehen zwei Kinder und mein Weib ohne Ernährer da. - O edle Jungfrau!" so wandte er sich plötzlich an Rosa, „habet Erbarmen mit meinen Lieben, wenn ich etwa von meinem nächtlichen Gange nicht mehr zurückkehren sollte!"

 

„Bange nicht!" entgegnete nach einigem Nachdenken Rosa mit sanfter Stimme, „Gott ist unsere Hilfe und Stärke, er verlässt die Seinen nicht, auch wenn sie mitten unter Skorpionen, Drachen und anderen Ungeheuern wandeln müssen. - Bete! - Und wenn du morgen dieses Zimmer betrittst, hat vielleicht der Herr die Rettung gewährt. - Jetzt gehe zu den Deinen und empfiehl dem barmherzigen Gott dich, deine Angehörigen und - mich!"

 

„Jungfrau! um des Himmels Willen! Ihr wollt doch nicht -- ?"

 

„Frage nicht weiter! Geh! Gott gebe dir eine geruhsame Nacht!"

 

Der Diener wusste nicht, wie ihm mit einem Male geschah. Hatte Jungfrau Rosa eben zu ihm geredet, oder war's ein Engel vom Himmel? - Einen heißen Kuss der Dankbarkeit drückt er noch auf ihre zarte Hand, dann geht er hinaus.

 

Das Öllicht brannte noch immer auf dem Tische, obgleich Rosa sich um die Reinhaltung des verkohlten Dochtes gar nicht gekümmert hatte. Alles im Hause war in tiefen Schlaf gesunken, nur sie, die Gute wachte noch und ging ihren eigenen Gedanken nach: der gute Diener dürfe sich als glücklicher Gatte und Vater keiner Lebensgefahr aussetzen. - Das Spielbrett? war es denn wirklich so wichtig, dass dadurch sogar das Glück von vier Menschen aufs Spiel gesetzt wurde? Wie? Wenn sie, die tief Unglückliche, den Weg wagte und im unheimlichen Walde durch unbekannte Hand stürbe, wäre dies nicht für sie ein glückendes Glück im weinenden Weh? -

 

Sie sollte Hagens Weib werden? Jenes Ritters Lebensgefährtin, dem die Bosheit und Schlechtigkeit aus den Augen sprang? O, sie kannte ihn, ihren Bräutigam, den der Vater ihr aufgenötigt und - sie fürchtete, floh ihn. - Nein, du kannst nicht Hagens Gemahlin werden, sagte sie sich zu dutzendmalen und immer wieder ließ das Herz, von Kindesliebe erfüllt, den furchtbaren Ruf ertönen: du musst, du musst, weil der Vater es so will! - Wie eine Irre presste sie ihre fieberheißen Schläfen in beide Hände, ihre trockenen Lippen flüsterten: muss - und - kann - doch nicht -  besser tot - zehnmal tot - als lebenslang - unglücklich. Tod! kalter, herzloser Tod! Komm! Siehe hier deine Braut! Ich werfe mich dir in die Arme. - Rosa, die Jungfrau aus dem Koblitz-geschlecht will Braut sein - Braut des Todes - 

 

Plötzlich stand sie auf, die vom stillen Wahnsinn gefolterte Braut, legte wärmere Kleider an, trat in die finstere Nacht hinaus und wanderte wie eine Schlafwandlerin südwärts, immer weiter, immer hastiger dem Bräutigam Tod entgegen. So kam sie endlich in den Wald, wo des Vaters Diener das Brett verloren hatte. Sie fürchtet nicht des Waldes Schrecken, des Forstes Dunkel; sie will ja nur entfliehen dem Zwang des Vaters, den Liebsten finden, den Erlöser - Tod.

Die Nacht war schon weit voran geschritten, als mitten im dichten Tann rauhes Stimmengewirr an der einsamen Wanderin Ohr drang. Rosa horchte erstaunt auf.

Immer näher und vernehmlicher tönten  die einzelnen Männerstimmen, immer deutlicher hörte man die Schritte auf dem mit Baumnadeln bedeckten Waldboden, dichte Finsternis hinderte Rosa daran, auf größere Entfernung die Nahenden zu erschauen. Doch je mehr dem Auge die Tätigkeit versagt ward, desto gespannter und aufmerksamer musste ihr Ohr lauschen und horchen. Schon waren die Unbekannten in ihre nächste Nähe gekommen, da verbarg sie sich, von unheimlicher Bangigkeit erfasst, hinter ein undurch-dringliches Gebüsch, ohne recht zu wissen, was sie daselbst anfangen sollte. Jetzt warf der Mond, von Wolken fast ganz verdeckt, sein mattes Licht zwischen die Waldbäume. Es genügte jedoch, Rosas Blut in den Adern stocken zu machen.

 

Sie erblickte knapp vor dem bergenden Strauchwerk Hagen von Reichenau, umgeben von einer kleinen Schar wilder Gesellen, die alle hier plötzlich stehen geblieben waren. Hagen gab im gedämpften Ton einen kurzen Befehl und alsbald wurde ein junges Mädchen sichtbar, der Koblitz-Tochter an Größe fast gleich, das bisher von den Genossen des Reichenauers umringt gewesen. Die ganze Frauengestalt verriet vornehme Abstammung. Eine Perlenschnur hing um ihren blendend weißen Hals, ein schweres seidenes Gewand viel über ihren schlanken Leib herab, während ihre ringgeschmückten Finger ein kleines Schmuckkästchen um-fassten.

 

„So, Jungfer Braut," begann Hagen, „wir sind so ziemlich an Ort und Stelle, deiner neuen Wohnung. Ha! Wie leicht ich mir die Herzen der Mädchen erobere! Doch nicht Herzen brauche ich, Schätzchen, sondern die reichen Gaben und Kostbar-keiten, die ihr leichtgläubigen Dinger gewöhnlich mitnehmt, wenn ihr, meinen falschen Beteuerungen und Schwüren trauend, heimlich mit mir euren Eltern entfliehet. Ja, so gib denn her, was du an Reichtümern deinem ahnungslosen Vater entwendet und dann fahre dahin zu deinen Vor-gängerinnen, die dort im Waldboden modern!"

 

Das entsetzte Mädchen viel vor Hagen in die Knie, erhob flehend die Hände zu ihm und stammelte: „Erbarmen! - Gnade! -- Ach ich bin noch so jung! -- Wehe mir Verblendeten!"

 

„Ruhig, Schätzlein!" höhnte der entmenschte Reichenauer. „Gnade willst du erfahren? Nicht wahr, damit du mich dann der Gerechtigkeit überantworten könntest? Hi hio! Mädchen-mäuler können nichts verschweigen.

 

Dein Grab im Walde behält aber all unsere Liebesgeheimnisse. Erbarmen flehst du? Gut, du sollst es haben: Schau hier das Bild des Erlösers! Da magst du noch einige Minuten beten, bevor du unterm Schwert dein Leben aushauchst."

 

Nach diesen Worten führte der Ruchlose die Jungfrau zum einfachen Bildstock im Walde, wo das leichtgläubige Todes-opfer sich im kurzem Gebete dem ewigen Richter empfahl. Sodann musste die Unbekannte auf Befehl Hagens das kostbare Obergewand ablegen, Perlenkette, Fingerringe und alle übrigen Kostbarkeiten abliefern und wurde endlich in eine geheime Erdhöhle geschleppt, die hart am schmalen Waldsteige gegen Koblitzdorf sich befand und durch Gestein und Gebüsch gut verdeckt war. Die gesamte unheimliche Gesellschaft verschwand in dieser Höhle, um an der Todesqual des zu mordenden Mädchens ihre verlierten Sinne weiden zu lassen.

Rosas Glieder waren wie gelähmt. Die Beobachtungen, die sie aus ihrem Versteck gemacht, überwältigten fast ihre schwachen frauenhaften Kräfte. Doch ihre entschiedene Willenskraft siegte über Schreck und Lähmung. Vorsichtig kroch sie aus dem sie bergenden Gebüsch hervor. Sie wollte heim und dem Vater erzählen, welch Scheusal jener Mann sei, den er sich zum Schwiegersohn ausersehen. An der geheimen Höhle vorbei zu gehen, hielt sie jedoch nicht für klug; nur einen Ausweg sah sie vor sich; einen kühn gewagten Sprung vom steilen Felsen gegen den Schlippenbach zu. Andächtig kniete sie deshalb vor dem Erlöserbilde über jenem Felsen nieder und flehte um Schutz und Beistand zum tiefen Sprung. In diesem Augenblicke trat die Mondscheibe hinter der finsteren Wolke hervor und beleuchtete neben dem Bildstöck-lein das verlorene Spielbrett.

 

Von Freude durchzuckt, griff Rosa nach diesem, wickelte es wie ein ungeheim kostbares Gut in die zurückgelassenen Kleider des grausam ermordeten Mädchens, trat an den Rand des Felsens und mit dem Rufe: Heiligste Jungfrau Maria! Hilf deinem Kinde! sprang sie hinab in die Tiefe.

 

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Noch graute nicht der Morgen. Der alte Koblitz, der die ganze Nacht hindurch keinen Schlaf gefunden hatte, war müde und matt aufgestanden, hatte ein winziges Lämpchen ange-leuchtet und ging nun in seinem Schlafgemach unruhig auf und ab.

Das Gewissen machte ihm heftige Vorwürfe sowohl seines Verhaltens den Töchtern gegenüber, als auch wegen des verrückten Befehles, den er seinem treuen Diener erteilt. Da klopfte jemand an der Türe, jedoch so sacht und sanft, dass Koblitz gar nichts hörte und weiter mit der Stimme seines Gewissens unterhandeln konnte.

 

Abermals wurde gepocht; diesmal etwas stärker.

 

„Jakob, bist du's?" frug der Gutsherr. Bringst du mir doch das Brett?

Koblitz erhielt keine Antwort.

„So komm doch herein, treuer Diener! Du brauchst meinen Zorn nicht mehr zu fürchten, denn ich habe bereits ein-gesehen, dass ich gestern abends zu hart gegen dich gewesen bin."

  

Niemand trat in das Schlafgemach.

Nun öffnete Koblitz die Tür, nachsehend, ob ihn etwa die Sinne täuschten, und fand auf der Schwelle eine in tiefer Ohnmacht zusammengesunkene Menschengestalt, die er in der Dunkelheit gar nicht erkennen konnte. Auf sein Rufen kamen Marianne und Therese und einige Dienstleute herbei, die das bewusstlose Wesen in des Hausherrn Schlafkammer trugen, allwo man sogleich die kranke Person erkannte; es war nämlich Rosa, die mutige Koblitz-Tochter, die nach dem nächtlichen Abenteuer so abgespannt war, dass sie nur noch mit Mühe und mit dem Aufgebot ihrer letzten Kräfte bis zu Kammer des Vaters gelangen konnte, dort aber auch sofort von vorübergehender Ohnmacht zu Boden geworfen wurde.

 

Stundenlang bemühten sich alle Angehörigen um die Kranke, von der niemand etwas sagen konnte, wie sie zu dem ver-missten Spielbrett und zu dem seidenen Kleide gekommen wäre. Jakob, der Diener hatte sich frühzeitig auf ein weit entferntes Feld zur Arbeit begeben und konnte deshalb nicht befragt werden, Rosa aber verweigerte, nachdem sie zu Bewusstsein gekommen, vor Mattigkeit aber immer noch zu Bette lag, jede diesbezügliche Antwort. Die einzige An-deutung, die sie noch machte, lautete: „die heilige Jungfrau liebt mich, wie eine Mutter; sie wird heute noch alles gut zu Ende führen."

 

So wurde es langsam Spätnachmittag.

 

Das große Zimmer im Koblitz'schen Herrschaftshause war für den Empfang des erhofften Schwiegersohnes festlich herge-richtet. Wohl wusste auch der Vater, dass die Reichenauer auf Kaltenstein ein ganz unritterliches Leben führten, und dass man unterm Volke viel von einer bischöflichen Bestrafung der Kaltensteiner rede, allein, so dachte er bei sich, wenn Hagen einmal Rosas Ehegemahl wäre und in Koblitzdorf genügend ordentliche Beschäftigung hätte, würde er auf sein Strauch-ritterwesen ganz vergessen. Schließlich könne ja Rosa aus ihrem Gatten machen, was sie wolle, könne ihn ziehen nach eigenem Wohlgefallen; denn die Männer seien allesamt vor der Hochzeit festes Erz, durch einige Jahre nach der Hochzeit bildsames Wachs in der Hand der Frau, dann aber bis zum Todes ein vorzüglich dressiertes Hunderl oder ein stachliger Igel. Ob Rosa gleich anfangs in der Ehe glücklich sein Werde? Wenn er nur recht bald einen männlichen Enkel herzen könnte! Alles andere sei Nebensache.....

In seinen weiteren Gedankengängen wurde Koblitz durch einen Diener gestört, der die Ankunft des jungen Ritters von Reichenau meldete. Bald darauf betrat Hagen das Zimmer seines künftigen Schwiegervaters, der ihn unter Zeichen der größten Freude und Liebe willkommen hieß und zur bevor-stehenden Verlobung mit Jungfrau Rosa zuversichtlich beglückwünschte.

Hagen benahm sich sehr vornehm und zuversichtlich, besprach mit dem alten Gutsherrn einige Pläne über den Abschluss der Ehe, beteuerte mit der aufrichtigsten Miene zu wiederholten Malen, dass er ohne Rosa gar nicht mehr leben könnte und den Zeitpunkt mit großer Sehnsucht herbei-wünsche, da er das grause, nach Blut lechzende Schwert, das Zeichen des Mordes und des Krieges, mit dem friedlichen Pfluge, dem Werkzeuge des ruhigen Lebens und der wohligen Eintracht werde vertauschen dürfen. Selbst während des Brettspiels, zu dem der Vater den Reichenauer aufgefordert hatte, gab er sich manche Blößen und unterbrach es oft durch Fragen und Bemerkungen über seine und Rosas Zukunft.

 

Koblitz freute sich über Hagens gut gespielte Begeisterung für das kommende Landleben und redete ihm vor, das Rosas zarte Liebenswürdigkeit und Anmut seine kühnsten Erwartungen noch übertreffen würde.

 

Endlich wurde das Spiel und die Unterredung der beiden Männer durch das bereitstehende Abendessen unterbrochen. Auch Marianne und Therese nahmen daran teil. Rosa ließ sich für eine halbe Stunde entschuldigen, weil sie sich, so hatte sie sagen lassen, für den heutigen Wendepunkt ihres Lebens noch gebührend kleiden und schmücken müsste. So wurde denn unter bedeutungslosen Scherzen und Lachen verzehrt, was die Dienstleute auf den Tisch gesetzt hatten und das Eintreten der Braut besonders vom Vater erwartet.

Die halbe Stunde war vergangen, und Rosa trat in das Zimmer.

Ihr zartes Antlitz, sonst rosig und frisch, war diesmal blass und durchscheinend, dunkelbraune Haarwellen bogen sich um Stirn und Wangen. Das Augenpaar, noch leicht vom Fieber durchglüht, sah Hagen ruhig und ernst an, als wollte es fragen: "Weißt du, dass ich als Kennerin deiner Schlechtigkeiten dir entgegentrete?" Und was die Augen noch nicht genug klar zum Ausdrucke brachten, das erzählte dem Hagen Rosas Gewand; denn sie hatte des nächtlich ermordeten Mädchens Seidenkleid angelegt, um auf diese Weise den hinterlistigen und verschlagenen Brautwerber in Verwirrung zu bringen und zum Verlassen des Hauses zu nötigen.

 

Dieser Plan gelang. Hagen erschrak beim Anblicke des Seidenkleides am Leibe Rosas derart, dass er kein Glied, nicht einmal die Zunge, bewegen konnte. Mit Befremden bemerkten der Vater Koblitz und seine beiden älteren Töchter die unerklärliche Wirkung des Erscheinens der noch schwachen Rosa. Fragend blickten sie bald auf Hagen, bald auf die zarte Jungfrau, die wie eine Rachegöttin bei der Tür stehen geblieben war und immerfort den zitternden Hagen ansah.

 

Der Ruchlose fasste sich jedoch nach einigen Augenblicken, schützte krankhafte Herzzustände wegen übergroßer Freude und Überraschung vor und schritt auf die Türe zu. Dort flüsterte er der noch immer unbeweglich dastehenden Jungfrau einige Worte zu, worauf er von ihr die Antwort erhielt. "Gott sei euch gnädig! - Ich verrate euch nicht."

Hagen verschwand im Dunkeln des Abend und ward nie mehr in Koblitzdorf gesehen. Nach einigen Tagen hörte man, dass er sowohl als auch sein gleich entarteter Vater im Kampfe mit bischöflichen Truppen Schloss und Leben verloren hätte.

 

Jetzt erst öffnete Jungfrau Rosa ihren schweigsamen Mund und erzählte ihren Verwandten, was sie in jener schrecklichen Nacht, in der sie das Spielbrett suchen gegangen war, gehört und gesehen hatte, wie also die scheinbare Lässigkeit des Dieners Jakob nicht etwa ein bloßer Zufall, sondern ein Werk der göttlichen Vorsehung gewesen sei, das dem von Selbstsucht verblendeten Vater die Augen öffnen, dem bedrängten Kinde Rosa aber Rettung und Ruhe bringen sollte.

 

Der alte Koblitz starb wirklich ohne Enkel; denn auch Rosa zog den jungfräulichen Lebensstand jeder auch noch so glänzenden Heirat vor.

 

Die drei Jungfrauen bewirtschafteten nach dem Tode des Vaters noch viele Jahre das ererbte Gut bis endlich auch Rosa als die Letzte aus dem Koblitz-Geschlechte, gegen das Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, hochbetagt in die Ewigkeit hinüberschlummerte und so das Allodial-Rittergut in Koblitz-dorf auf fremde Besitzer überging.

 

Das Andenken an die Jungfrauen, besonders an Rosa, hatte sich aber im Volke dauernd erhalten.

 

Die Ortschaft wurde vom Volksmunde immer allgemeiner und offener Jungferndorf genannt, welche Bezeichnung sogar seit 1532 in Urkunden Aufnahme fand; der Wald, in dem Hagen die leichtgläubigen Bräute zu Tode quälte, führt bis auf den heutigen Tag den Namen Jungfernbusch und selbst der Felsen, an der Schlippe, erinnert noch an Rosas nächtliche Flucht: er heißt der Jungfernsprung.

 

 

 

 

Der nächtliche Jäger bei Siebenhuben

 

 

Vor mehr als hundert Jahren gab es an der Grenze zwischen Wildschütz und Siebenhuben jeden Winter, besonders in den Nächten der Adventszeit ein ziemlich lautes Leben und Treiben. Ohne einen Waffenpass und ohne sich erst einen Erlaubnisschein für die Jagd zu erwirken, veranstaltete der sogenannte „Nachtjäger“ seine eigenartigen Treibjagden in diese Gegend und zwar ganz besonders gern auf der daselbst gelegenen Sumpfwiese. Wie dieser Nachtjäger ausgesehen, ob er allein oder in größerer Gesellschaft seinem Jagdvergnügen nachgegangen, welcher Gattung von Jagdwild er mit Vorliebe nachgespürt, ob seine Jagdbeute rentabel war oder nicht, darüber lässt sich nichts genaueres erfragen; allein das eine wird doch noch heute von alten Leuten als Überlieferung von der „Grusla selig“ erzählt, dass nämlich sehr oft in den früheren Winternächten ein lautes Gebell von kleinen Hunden und zeitweise der Knall aus kleinen Gewehren von den Feldern und der Sumpfwiese her deutlich vernehmbar gewesen seien.

Diese nächtliche Jagen spielte sich so oft und fast regelmäßig ab, dass die Bewohner von Siebenhuben sich sozusagen daran gewöhnt hatten wie etwa ans Essen, Trinken oder Schlafen. Nichtsdestoweniger hatten sie alle ganz respektables Grauen und unheimliche Furcht vor dem Nachtjäger, und niemand wagte es, um diese Jagdzeit auf Feld oder auch nur ins Freie zu gehen. Man erzählte sich von ihm alles nur Erdenkliche, doch nie etwas Gutes.

 

An einem Winterabende saßen in einem Bauernhause Siebenhubens die Bäuerin mit ihren weiblichen Dienstleuten in der Spinnstube bei ihren Spinnrädern. Munter surrten die Räder, noch munterer und lustiger ging aber das gesunde Mundwerk der einzelnen Spinnerinnen. Man sang alte schlesische Volkslieder, erzählte Schwänke und Scherze, während der Hausherr durch selber gestoßene Schleißen für die notwendige Beleuchtung des Raumes Sorge trug.

 

„Heuer hat sich ja der Nachtjäger noch gar nicht gemeldet,“ sprach die Bäuerin, als sie bemerkte, dass den Spinnerinnen der Schlaf der Ermüdung langsam in die Augen schlüpfte. Sie wusste aus Erfahrung, dass der Gedanke an den Nachtjäger zwar sehr alt sei, dennoch aber seine die Nerven aufregende Wirkung nicht eingebüßt habe, weshalb sie auch stets zum nächtlichen Nimrod ihre Zuflucht nahm, wenn es galt, ihre Leute willfährig und gefügig zu machen.

 

Die listige Äußerung der Bäuerin verfehlte auch diesmal ihre Wirkung nicht. Die müden Augen der Dienstleute blickten plötzlich wieder munter drein, die Räder, von lebhaften Füßen getreten, drehten sich schneller, als ob neues Leben in sie hineingefahren wäre, und der im bangen Staunen geöffnete Mund der Arbeiterinnen fragte gedehnt: „der Nachtjäger? der Nachtjäger?“

 

Nur die Großmagd Kathrin tat gar nicht erstaunt, ließ sich überhaupt durch den Unbekannten, den noch keines Menschen Auge gesehen, in ihrem Tun und Gehaben nicht beeinflussen.

„Was ihr da wieder habt, Bäuerin!“ wandte sie sich mit einen Gefühl der Überlegenheit an ihre Dienstfrau. „Hat er sich euch vielleicht schon einmal vorgestellt, dieser Jäger, dass ihr so große Sehnsucht nach ihm traget?“

 

„Red’ nicht so frevelhaft und spöttisch, Kathrin!“ entgegnete die Bauersfrau, sonst könnte er dir leicht die Hunde auf den Hals hetzen und dich auf diese Weise überzeugen, dass es nicht gut ist, mit ihm ein loses Spiel zu treiben. Gesehen habe ich ihn zwar noch nicht, schließlich wünsche ich das auch gar nicht, aber erzählt wurde mir schon recht viel von ihm.“

 

„Ach, tut doch nicht so entsetzt und ängstlich. Ich fürchte mich vor niemanden, außer vor unserem Herrgott. Fraget nur unseren Knecht, der mich vorgestern Abend in der Dunkelheit draußen am Wege erschrecken wollte, wie sanft die Fäuste der Großmagd um Wange und Aug zu streicheln verstehen. Habt ihr’s noch nicht bemerkt, dass er über den Augen seit zwei Tagen Beulen und blaue Flecke trägt? Na, dem wird’s wohl nicht bald wieder einfallen, mich zu necken.“

 

„Ja, aber der Nachtjäger ist eben nicht unser Knecht,“ warnte die Besitzerin.

In diesem Augenblicke hörte man von der Sumpfwiese einen Schuss und Bellen von kleinen Hunden.

„Hört ihr’s, Bäuerin? Der Nachtjäger scheint wieder einen Rappel zu haben, - oder kommt er bloß deshalb, weil ihr ihn schon vermisst habt?“

„Geh! Kathrin,“ mengte sich jetzt der Bauer hinein, „sei nun still! Ich bin ja froh, an dir eine so starke und unerschrockene Kraft zu haben, allein ich fürchte, dass du durch deine ungezügelten Worte gar leicht den Zorn des nächtlichen Jägers auf dich ziehen könntest. Auf jeden Fall ist es eine gewagte und gefährliche Sache, einen Unbekannten zu reizen und herauszufordern.

 

Die Großmagd schwieg. Dem Bauer einen Widerspruch zu geben getraute sie sich doch nicht, allein von einem frevelhaften Unterfangen ihrerseits war sie auch nicht überzeugt. Sie setzte wie die übrigen Spinnerinnen ihr Rädchen in rasche Bewegung und ließ den Flachs wieder schneller durch die Finger gleiten, während ein ganz eigentümlicher Zug des jugendlichen Übermutes beständig um ihre Lippen spielte.

Draußen ließ sich indessen von Zeit zu Zeit das Treiben des Nachtjägers vernehmen.

Noch war keine Viertelstunde vergangen. Kathrin tat, als ob sie bei ihrer Arbeit schläfrig würde und es bei ihr einer künstlichen Ermunterung bedürfte. Sie stand auf von ihrem Sitze, ging einige Male im Zimmer auf und ab und rieb sich die Augen; endlich begab sie sich hinaus, ließ den Haushund von der Kette los und hetzte ihn gegen den Nachtjäger, indem sie leise sprach: „Hallo! Cäsar! Hilf dem armen Kerl dort die erlegte Jagdbeute sammeln!“ Hierauf  kehrte sie, ohne jemanden etwas davon zu sagen, wieder in die Spinnstube zurück.

Bald darauf heulte der Haushund vor den Fenstern so jämmerlich und kläglich, dass sich der Bauer und die Spinnerinnen in der Stube gar sehr darüber wunderten. Und da die Klagetöne gar nicht verstummen wollten, öffnete Kathrin das eine Fenster, um den Hund anzurufen und zur Ruhe zu mahnen. Doch kaum war der eine Fensterflügel geöffnet, so flog auch schon, von unsichtbarer Gewalt geschleudert, ein ziemlich großes Stück Fleisch zum Fenster herein, wobei eine unbekannte Stimme rief:

„Hoste helfa jaon, kaonnste helaa traon.“

 

Die Magd blieb wie versteinert stehen. Kein Glied vermochte sie zu bewegen.

 

Im hohen Grade erschrocken, wollte der Dienstherr das Fleisch wieder hinauswerfen, war aber mit all’ seinen Leuten nicht im Stande, dasselbe auch nur vom Fußboden zu heben, ja es schien mit den Dielen zusammengewachsen zu sein.

 

Das verursachte ihm nicht geringe Unruhe. Deshalb ging er am nächsten Morgen zum Pfarrer nach Gurschdorf, erzählte ihm die unheimliche Angelegenheit und bat ihn um Rat.

 

Der Geistliche riet ihm, ein gutes Werk zu stiften und dann wieder zu versuchen, das Fleisch in die Höhe zu heben. Wenn dies gelänge, dann möge er das Fleischstück zu einer Zeit, in der er den Nachtjäger wieder höre, mit den Worten hinauszutragen: „Es ist noch keine Petersilie dabei.“

 

Der Bauer tat, wie ihm geraten ward. Er setzte neben seinem Hause ein Kreuz und traf die Bestimmung, dass es bis zu ewigen Zeiten jeder nachfolgende Besitzer zu erhalten habe.

 

Nach diesen Vorkehrungen gelang ihm zu seiner großen Freude die Entfernung des Fleischstückes. Der Nachtjäger aber ließ sich von der übermütigen Kathrin nicht mehr lange ärgern, sondern zog in ein anderes, weit abgelegenes Jagdrevier.

 

 

Der Lindwurm auf dem Gigerberge bei Gurschdorf

 

 

Vor vielen Jahren, in genauen Zeitangaben gehen die Meinungen der einzelnen Gewährsmänner und -weiblein auseinander, wütete oberhalb der Ortschaft Gurschdorf ein gar unersättlicher und gefährlicher Lindwurm. Die Gegend, wo er seine Wohnung aufgeschlagen hatte und ganz besonders sein unheilvolles Wesen trieb, war eine mäßige Anhöhe, die mit undurchdringlichem Buschwerk und dichtem Wald bestanden war. Nur selten machte das Ungeheuer aus seinem dunklen Verstecke im Licht der Sonne einen Ausflug, und wenn es einmal, vom furchtbar quälenden Hunger getrieben, einen Flug nach Beute bei Tag unternahm, dann gab’s ein derartig schreckliches Sausen und Brausen, dass selbst die beherztesten und tollkühnsten Menschen mit bebendem Herzen eiligst in ihre Häuser zu entkommen trachteten. Man hatte nämlich die traurige Wahrnehmung machen müssen, dass das schreckliche Wesen von Feldern und Weideplätzen Ziegen und Kälber als Raubbeute sich holte, ja selbst die schwersten Rinder mit Leichtigkeit davontrug und auch vor wilden Tieren, wie vor Wölfen und Bären, deren es damals noch viele in den schlesischen Bergwäldern gab, nicht zurückschrak.

 

Wenn auch noch niemand den unheimlichen Bewohner des niedrigen Berges zu Gesicht bekommen hatte, so war doch Klein und Groß überzeugt von dessen Dasein, weil er von Zeit zu Zeit eine Art Brüllen und Geschrei hören ließ, das wie „Giger“ zu lauten schien. Wurde dieser Gigerruf einmal vernehmlich, dann fuhr er den Menschen wie ein glühender Strahl durch Mark und Bein, denn dieses Geschrei kündete das baldige Erscheinen des Lindwurmes in der Luft an, der sich oft pfeilschnell auf jedes erspähte Lebewesen herniederließ, dasselbe an Ort und Stelle erwürgte und dann in sein Nest davontrug.

 

Die Not im Lande wurde groß. Niemand wagte sich mehr ruhig aus dem Hause; jeder musste fürchten, ein Opfer des Ungeheuers werden zu können. Alles was man bisher unternommen und versucht hatte, dem Tiere den Garaus zu machen, war zwecklos gewesen. Immer noch hörte man das erschaudernde Giger, immer noch dröhnte das betäubende Brausen von den Schwingen des dahinfliegenden Lind-wurmes, immer noch holte sich der Nimmersatt seine Nahrung aus dem Viehbestande der in der Nähe wohnenden Ansiedler.

 

In dieser schrecklichen Not wandten sich die Gurschdorfer an einen frommen Pilger, der auf seiner Heimkehr aus dem Heiligen Land gerade den Ort durchzog, und erhielten den Rat, dem Ungeheuer vergiftete Fleischstücke, oder noch besser, ungelöschten Kalk zu fressen zu geben, dann sei zu hoffen, dass die Gegend wieder zur Ruhe und Sicherheit gelangen würde.

Der Rat fand zwar allgemeinen Gefallen, allein niemand wollte sich finden, der dem Lindwurm die Verderben bergende Speise hätte vorlegen wollen. Endlich meldete sich ein mutiger Jüngling, der Sohn einer Häuslerin und versprach, nach reiflicher Vorbereitung den Versuch zu wagen, das Land von der stets drohenden Gefahr zu befreien.

Die Bauern waren darüber höchlichst erfreut; doch als Jung Tobis, so hieß allgemein der Jüngling, die Leute aufforderte, ihm einen Ochsen oder einen Stier zu schenken, damit daraus die Giftbissen bereitet werden könnten, da stieß er, der arme Häuslersohn, auf ungeahnte Schwierigkeiten; denn niemand wollte für die übrigen Mitbewohner allein etwas aus dem eigenen Stalle hergeben und opfern. Der Dorfscholze wälzte die Abgabepflicht auf den Gemeindeältesten, dieser wieder auf einen anderen Bewohner und schließlich blieb dem jungen Manne nichts übrig, als mit leeren Händen, an Erfahrung aber etwas reicher, heimwärts zu ziehen.

 

Die arme Witwe hörte mit Trauer den Bericht vom vergeblichen Gange und ließ sich auf vieles Zureden endlich dazu bewegen, ihre einzigen zwei Ziegen zur Vertilgung des Lindwurmes herzugeben.

Nun war Jung Tobis froh, sein Vorhaben doch ausführen zu können. Er weidete die beiden geschlachteten Tierchen aus und hielt alles bereit zur gefährlichen und eigenartigen Lindwurmfütterung. Eine Nacht der spannendsten Erwartung ging für Tobis schlaflos dahin. Der Morgen war kaum angebrochen, da wurde auch wieder der Schrei: Giger, Giger! vernommen. Flugs hatten sich Tier und Menschen in ihre sicheren Wohnungen und Ställe geflüchtet. Zischend und surrend stieg der hungrige Lindwurm aus dem Bergwalde in die Morgenluft, umkreiste die einzelnen Felder und Gehöfte, scharf spähend, ob es denn nirgends etwas zu verschlingen gäbe. Schon wurde das Gebrüll lauter, kreischender, durch-dringender und beängstigender, da tat sich eine niedrige Tür im Hause des Jung Tobis auf und der Jüngling schleppte mit sichtlicher Anstrengung eine Ziege hervor, legte sie vor dem Hause zur Erde und verschwand eilends hinter der Haustüre.

 

Augenblicklich schoss der Lindwurm aus der Höhe auf die Ziege herab, deren Inneres mit gebranntem Kalke angefüllt war, und verschlang sie mit Gier und Heißhunger.

Während dessen trug Tobis die zweite mit ungelöschtem Kalk vollgestopfte Ziege zum Hintertürchen ins Freie und flüchtete abermals unter Dach und Fach. Das unersättliche Tier witterte alsbald den neuen Bissen, machte sich darüber und verschluckte ihn, ohne ihn erst zu zerreißen oder zu beißen. Mit diesen zwei Opfern aus dem Hause der armen Witwe noch nicht zufrieden, umkreiste das Biest die Wohnung   derselben, und als es sah, dass es nichts mehr zu erwarten habe, flog es mit lautem Flügelschlag dem Berge zu.

Nur allzu bald begann der Kalk mit seiner zerstörenden Wirkung; immer wärmer und heißer und brennender und glühender wurde dem Lindwurm um Magen und Gedärm, so zwar dass er meinte, er hätte wenigstens einen Teil der Hölle in sich und in seinen Eingeweiden. Der innere Brand musste gelöscht werden. So gut es ging, kroch er zu dem nicht weit vorbei fließenden Mittelgrundbach. Dort legte er sich in das kühle Wasser und trank und schlürfte davon, so viel nur in seinen Magen hinein ging. Dadurch wurde aber die Hölle in seinen Eingeweiden nur noch heißer und schrecklicher. Dicker, weißer Rauch strömte ihm aus Rachen und Nasenlöcher, der sich auflösende Kalk zerfraß die Eingeweide, blähte den Leib derartig auf, dass er barst und der Lindwurm im Gewässer des Mittelgrundbaches unter den furchtbaren Schmerzen verendete.

Jetzt war man in Gurschdorf und in der Umgebung wieder seines Lebens froh. Alles atmete wie von einem schweren Drucke befreit, erleichtert auf, der Dorfscholze und die übrigen Gemeindeväter und alle und alle schüttelten Jung Tobis freudig die Hand, nannten ihn einen wackeren und kühnen Mann, einen wahren Sohn der Gemeinde, auf den man ehrlich stolz sein könne, ja man beschloss sogar, zum Zeichen der überaus großen Dankbarkeit und der gebüh-renden Anerkennung einer selbstlosen und beherzten Tat ihm einen Zahn aus dem Rachen des toten Lindwurmes zu überreichen.

Zwei ganze Tage wurde von nichts anderem als vom Lindwurmtöter gesprochen.

Jedoch nur wirklich zwei Tage, denn als am Morgen des dritten Tages einige Männer, mit Sensen, Mistgabeln, Knütteln und anderen  Waffen wohl ausgerüstet, sich nach dem Mittelgrundbach aufmachen wollten, um dort den Zahn des Untiers zu holen, erbleichten sie ganz plötzlich derart, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnten und ihre hohe Aufgabe völlig vergaßen.

 

Vom Gipfel des Berges ertönte nämlich ganz unerwartet wie ein Posaunenschall der Schrei: „Giger - Giger!“

 

Der eine Lindwurm lag zwar noch immer tot im Bache, allein das Lindwurm-Weibchen, das jetzt ohne Nahrung schon zwei Tage das Nest am Berggipfel gehütet hatte, sah sich gezwungen, in höchst eigener Gestalt nach einem reichlichen Mahl Umschau zu halten. Zornentbrannt über den Mord an ihrem Männchen erhob sich deshalb das Lindwurm-Weibchen wutschnaubend in die Lüfte, umkreiste die einzelnen Häuser und Gehöfte, stürzte sich dann über die Rinderherde des Scholzen, der in voreiliger und falscher Sicherheit seine schönsten Stücke aus dem Stalle auf die Weide getrieben, und verschlang im Augenblicke den feistesten Ochsen, erfasste hierauf eine prächtige Kuh mit den Zähnen und trug diese fort zu ihrem Neste.

 

Mit stierem Auge sahen die Bewohner des Ortes aus ihren wohl verschlossenen Hütten dem blutigen Raubschauspiele zu. Um die Mittagszeit, als die Luft rein und sicher war, kamen die Gemeindeväter zu Jung Tobis und flehten ihn mit aufge-hobenen Händen an, abermals das Dorf vom neuen Unheil zu befreien. Der Jüngling versprach, nochmals einen Versuch zu wagen, allein diesmal müsse die Gemeinde für den Lind-wurmfraß sorgen, weil er und seine Mutter die einzige Habe schon für das erste Untier geopfert hätten. Ein Stier, ein Ochse oder wenigstens zwei bis drei Kälber müssten doch noch für das Allgemeinwohl unentgeltlich aufzutreiben sein.

 

Die Gemeindevertreter machten bei dieser Forderung zwar lange Gesichter, allein sie versprachen, alles Menschen-mögliche zu tun und schickten gegen Abend durch einen Boten - drei Gänse zu Tobis mit der gleichzeitigen Nachricht, dass in dieser elenden Zeit tatsächlich nicht größere Opfer gebracht werden könnten. Schließlich müsse auch das Lind-wurmweiblein dies einsehen.

 

„Wir werden ja sehen, ob das Biest vom Berge wirklich so rücksichtsvoll ist,“ sprach Jung Tobis zum Boten, indem er sich von ihm etwas zweifelnd verabschiedete.

Wieder wurden die drei gefüllten Opfer als Giftbissen vorbe-reitet. An Stelle der Eingeweide wurden möglichst viel kleine Stückchen gebrannten Kalkes in die Gänse getan, die Brust-teile dann wieder unauffällig zusammengenäht, so dass sie ganz appetitliche Brocken darstellten.

 

Langsam hob sich der Morgen aus dem nächtlichen Dunkel, leuchtete goldfarbenes Glühen über die Hügel und Bäume, warf strahlenden Schimmer über das Himmelszelt hin, bis alles licht und hell ward und unbeschreiblich schön.

 

Und diese Morgenherrlichkeit ward plötzlich gestört durch das neuerliche furchtbare Umherfliegen des Lindwurm-weibchens. Immer engere Kreise zieht’s! Nirgends sieht es eine Beute. Erschreckend schwirrt sein Flügelschlag, schauerlich dröhnt der Giger-Schrei.

Da wirft Jung Tobis die Gänse zum Dachfensterchen hinaus, eine , zwei, drei. - Das Ungeheuer stürzt darauf hin, beschnüf-felt sie nur, und als ob es den verderbenbringenden Kalk gewittert hätte, fliegt es unbefriedigt mit wütendem Geschrei dem Neste zu.

 

Nur für einige Augenblicke bedeckten die dunklen Wald-bäume des Berges das schreckliche Tier. Bald kommt’s wieder emporgestiegen aus dem Forste, doch diesmal im langen Zuge, so dass finsterer Schatten sich über die Gegend lagert; der alte Lindwurm ist’s, die Mutter, die rasende, mit sieben Jungen, die bereits flügge geworden waren. Und sie alle sausen durch die Luft über der Gemeinde, als wollten sie Tod und Verderben über diese bringen und verschwinden dann endlich wieder im düsteren Horst.

 

Die Bewohner von Gurschdorf verloren ob dieses Anblickes jeden Mut und jede Lust zum weiteren Leben, ja es wurden Stimmen laut, man möge sich sofort der unheimlichen Brut zum Fraße hingeben, denn so wäre wenigstens mit einem Schlage die ständige Furcht und Qual beendet und alle Not überstanden.

In dieser allgemeinen Verzweiflung kam fahrendes Volk ins Dorf. Als diese fremden Leute, die verschiedene geheime Künste verstanden, von der furchtbaren Lindwurmplage, vom Opfer der armen Jung-Leute und von der übertriebenen Spar-samkeit der übrigen Ortsbewohner hörten, versprachen sie unfehlbare Abhilfe zu schaffen, wenn die Gemeinde das Gebiet das jetzt der Lindwurm beherrschte, dem opferwilligen Jung Tobis und seiner Mutter schenken wollte.

 

Die Gemeinde machte gut Miene zum bösen Spiel und ging auf den Vorschlag ein.

Nun begaben sich die fahrenden Leute mit Jung-Tobis in den Wald, in dem die acht Lindwürmer hausten, und trugen unter allerhand geheimnisvollem Gemurmel eine ungeheure Menge Stroh, Reisig und dürre Ruten zusammen. Aus diesen machten sie erst einen sehr großen Kreis um den ganzen Berg herum, verengten dann die Kreise gegen den Gipfel immer mehr und mehr und legten um das Lager des Lindwurmes so viel der Astwerkes, dass sich die Ungeheuer endlich in einer Art ohnmächtiger Verlassenheit befanden und unfähig fühlten, sich zu erheben, zu verteidigen oder zu entfliehen, da sie schließlich von dem Rutenwerke über und über bedeckt waren.

 

Nun wurden die Reiser an mehreren Stellen gleichzeitig angezündet. Gierig fraß das feurige Element an dem aufgehäuften Brandmaterial, züngelte an den harzigen Baumstämmen empor und erzeugte einen solchen Qualm und Rauch, dass die beherzten Lindwurmtöter schleunigst aus dem Bereiche des Feuers entfliehen mussten. Wohl bot dieser in Flammen und Dampf gehüllte Berg einen schrecklichen Anblick; gleichwohl schlug den Gurschdorfern darob freudig das Herz, denn sie durften hoffen, dass dadurch der ganzen Lindwurmbrut das Lebenslicht endgültig werde ausgeblasen werden.

Da erschall abermals die gefürchtete und bekannte Stimme der durch Feuer und Rauch geängstigten Ungetüme; doch diesmal lag etwas Klägliches und Jämmerliches in den Tönen, die immer das „Giger“ deutlich vernehmen ließen und zwar so schauerlich und durchdringlich, dass sogar die Drachentöter und auch die anderen Ortsbewohner etwas wie Mitleid mit den Unholden empfanden.

 

Als endlich das Feuer das eigentliche Nest der Lindwürmer erfasst hatte, verlor sich das unbeschreibliche schmerzliche Geheul in immer schwächer werdendem Gewinsel und Stöhnen, bis es endlich ganz verstummt war. Noch brannte das Rutenwerk während des ganzen Abends und während der ganzen folgenden Nacht, denn das aus den Untieren geschmolzene Fett gab dem Feuer immer neue Nahrung.

 

Erst gegen Mittag des nächsten Tages war das Feuer völlig erloschen und die Brandstelle soweit abgekühlt, dass man wagen konnte, ohne Schaden den Ort zu betreten. Nun kamen Menschen in großer Anzahl herbei: teils aus bloßer Neugier, teils aber in der Absicht, die hoch daliegende Asche wegzu-räumen und zu sehen, was mit dem Lindwurm und seinen sieben Jungen geschehen wäre. Doch wie sehr wunderten sie sich, als sie da wie durch einen Sumpf waten mussten. Im Feuer waren nämlich alle Lindwurmleiber verbrannt, das überaus reichliche Fett aber, das aus ihnen geschmolzen war, hatte sich, über die Berglehne fließend, mit der dort befind-lichen Asche vermengt und bildete jetzt ringsrum eine mehrere Zoll starke, schlammige Decke.

Am Gipfel des Berges lagen nur noch die Lindwurm-Gerippe von ungeheurer Größe.

 

Jung Tobis, der auch bei der Brandlegung um den Berg seinen redlichen Teil Arbeit geleistet hatte, erhielt der Vereinbarung gemäß den Berg als Eigentum zugesprochen, bebaute die mit Drachenfett und Asche vorzüglich gedüngte Feuerstätte mit Fleiß und Ausdauer, so dass er nach und nach nicht nur wieder zu zwei Ziegen sondern sogar zu einigen Stücken Rindvieh und zu einem gewissen Wohlstand gelangte.

 

Von dieser Zeit an wurde der gefürchtete Ruf: „Giger“ in der Gegend von Gurschdorf nicht mehr vernommen. Die Anhöhe aber, auf der das Lindwurmpaar seinen Wohnsitz hatte erhielt den Namen Gigerberg.

Ob Jung Tobis sich über den Besitz des Gigerberges gefreut hatte und wie lang er ihn sein Eigen hatte nennen können, darüber schweigt der Volksmund.

Sicher ist’s, dass ihm der Gigerberg mehr genützt haben dürfte als ein Gigerzahn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Schwedensoldat in Setzdorf

 

 

Nicht weit von Setzdorf, in den sogenannten Stenzelbirken, gab es einst eine niedrige Erderhebung, die nach Aussage der Ortsbewohner nicht anderes als ein Grabhügel über der Leiche eines schwedischen Reiters war. Als nämlich während des dreißigjährigen Krieges die Heereszüge der mit Schweden verbündeten Fürsten in Schlesien einfielen, drangen einzelne Abteilungen auch in die Gebirgsgegenden ein, um in den einzelnen Ortschaften und Häusern zu rauben und zu plündern, wie es eben zur Zeit des damaligen Krieges bei der zügellosen Soldateska fast allgemein üblich war. Auch nach Setzdorf hatte sich ein kleiner Schwarm schwedischer Söldlinge verlaufen, um hier bei den Einwohnern Geld und Lebensmittel zu erzwingen, Sachen, die ihnen von den eigenen Truppenführern schon längere Zeit nicht gegeben worden waren, weil im Lager der Schweden selbst Not und Hunger herrschte. Frech und ungestüm drangen die Soldaten in die einzelnen Wohnungen und begehrten gebieterisch Brot, Fleisch, Wein, Silber, Gold und viel anderes, was ihnen gerade der Wahnwitzige Übermut zu fordern eingab.

 

Die eingeschüchterten und ängstlichen Leute von Setzdorf taten alles, was ihnen von den rohen und erbarmungslosen Kriegern mit drohenden Gebärden aufgetragen ward und was sie zu erfüllen vermochten. Das letzte Stückchen Brot, den letzten Groschen legten sie vor die rohen Gesellen hin, um so wenigstens das eigene Leben zu retten. Die Plünderer weideten sich an der hilflosen Angst der Setzdorfer, nahmen von dem, was ihnen entgegengebracht wurde, was ihnen augen-blicklich behagte und zogen dann polternd und fluchend davon, um ihr grausames Spiel in einem anderen Hause neu zu beginnen. Was sie an Ort und Stelle nicht verzehren konnten, wurde für spätere Zeiten in Bündeln eingebunden und mitgeschleppt, die wenigen Geldstücke wanderten in einen Beutel und sollten nach vollendeter Plünderung nach Recht und Billigkeit unter sämtlichen Teilnehmern verteilt werden.

Die rohen Söldner merkten gar schnell, dass von der wehrlosen Bevölkerung von Setzdorf keine Gefahr zu fürchten sei, sie also ihren Beutezug rascher beenden könnten, wenn sie sich in ganz kleinen Gruppen von zwei bis drei Mann auflösten und auf diese Weise gleichzeitig in mehrere Wohnungen eindrängen. Dieser Vorschlag, der von einem älteren Soldaten gemacht worden war, fand allgemeine Zustimmung und wurde auch gleich ausgeführt.

 

Der ältere Mann, der den Vorschlag gegeben und auch der Führer des Söldnerschwarmes zu sein schien, rief kommandierend seinen ungefähr zwanzigjährigen Sohn Gustav und einen zweiten jungen Krieger an seine Seite, gab den übrigen Leuten noch einige kurze Verhaltensmaßregeln und drang hierauf mit seinen beiden Begleitern in das nächstliegende Gebäude ein.

 

Ein kleines Zimmerchen nahm die drei Fremden auf. Keinen Menschen sahen sie da, auch keinen besonderen Hausrat.

 

Alles zeugte für Einfachheit, vielleicht sogar für Armut, aber gleichzeitig für Reinlichkeit, Ordnungssinn und stilles häusliches Glück. An den kleinen Fensterchen hingen schnee-weiße Leinenvorhänge, während zarte Blumensträuße am Fenstermäuerchen dem kleinen Raum etwas vom Reize eines wonnigen Lebens verliehen.

 

„Niemand Hier?“ brüllte mit heißerer Stimme der Führer in die friedliche Stille des Zimmerchens hinein und ging auf eine kleine Tür zu, die in ein anstoßendes Gemach zu führen schien; diese stieß er mit wuchtigem Fußtritt auf, und nun sahen die drei Soldaten eine junge, blühende Frau, die in seligem Mutterglück ein kleines, kaum sechs Monate altes Kindlein eben an ihr Herz drückte.

Beim unerwarteten Anblick der drei fremden und trotzigen Gesichter war zwar die junge Mutter erschrocken, allein gar schnell hatte sie sich wieder gefasst und das Kind noch fester und inniger an sich pressend, forschte sie im ruhigen Ton nach Wunsch und Begehr der Unbekannten.

„Fleisch und Geld suchen wir hier!“ gröhlte es ihr als Antwort entgegen.

„Dann werdet ihr bei mir vergebens euch bemühen, ihr Männer,“ entgegnete die junge Mutter. „Denn bei den gegenwärtigen Kriegszeiten, in denen die kaiserlichen Soldaten so viel für ihre Verpflegung brauchen, bleibt uns kein Fleisch zu essen übrig. Und Geld? - O du teure Zeit! Die letzten Spargroschen sind schon auf die notwendigen Lebensmittel drauf gegangen.“

„Jammert nicht, Frau!“ unterbrach Gustav die Sprecherin. „Nicht leere Worte und Ausreden wollen wir, sondern Essen und Geld oder Geldeswerte.“

 

Da jedoch die Frau darauf bestand, dass im Hause nichts von dem Gewünschten zu haben sei, vielmehr dass sie selber mit Sehnsucht auf die Heimkehr ihres Mannes warte, weil er gewöhnlich etwas Besseres für ein Sonntagsgericht mitbringe, riet der ältere Schwede, der, als erfahrener Mensch, nicht so sehr den Worten als vielmehr dem unschuldigen und treu-herzigen Auge der jungen Mutter trauen zu dürfen meinte, zum sofortigen Verlassen des Hauses, um an einem anderen Orte das Glück zu versuchen. Schon wandten sich die drei Männer zum Fortgehen, da erblickte Gustavs scharfer Blick am Halse des kleinen Kindes einen güldenen Goldpfennig, der an einem Kettchen hing. Er ließ deshalb den Vater und den anderen Gefährten hinausgehen und forderte hierauf gebieterisch die Herausgabe des kindlichen Halsschmuckes.

„Ach, Herr!“ bettelte ängstlich die junge Mutter, „sehet ab von eurem Begehr, denn diese Medaille und die Kette aus Silber sind ein Geschenk der Paten meines Kindes. O, ich weiß, dass der hohe Wert dieses Kleinods euch in die Augen sticht, doch ich bitte euch, junger Mann, beim Andenken an euere eigen Mutter, bei der heiligen Jungfrau Maria, bei allem, was euch lieb und heilig ist, nehmt euch von meinem Sachen, was immer und so viel ihr wollt, nur meinem Kinde lasset sein einziges Gut!“

Die geängstigte Mutter kniete nieder vor dem jungen Schweden, um ihn auf jede nur mögliche Weise zum Mitleid zu bewegen. Dieser jedoch kümmerte sich nicht um die Bitten und Qualen der Frau, sondern griff gierig mit roher Hand nach dem funkelnden Plättchen. Wie eine Henne beim Nahen

eines Sperbers ihre Flügel schützend und kampfbereit um ihre Jungen legt, so umfasste auch die besorgte Mutter jetzt ihr Kindlein, um es vor den raubgierigen Krallen des Bösewichtes zu bewahren.

 

Und sonderbar! So sehr auch der junge Schwede an dem Kettchen riss und zerrte, wie von geheimnisvollem Mächten zusammengehalten, blieb Glied an Glied unzertrennlich hängen, bis der Söldner von der Fruchtlosigkeit seines Unter-fangens endlich überzeugt, fluchend und polternd die ärmliche Wohnung und seine beiden Bewohner verließ und dem Vater nacheilte.

Froh aufatmend erhob sich die Frau. Noch fester zog sie das Kindlein an sich, zärtlicher strich sie liebkosend dessen Wänglein, heißer küsste sie das kleine Lippenpaar, inniger schaute sie in die - gebrochenen Augen ihres einzigen Kindes, das der Ruchlose und Habgierige durch das gewaltsame Ziehen und Zerren am Kettchen erdrosselt, ohne dass es die angstdurchzitterte Mutter gemerkt hatte.

 

Jetzt stand sie erstarrt da. Alle Bemühungen, das Kind zum Leben zurückzurufen, waren vergeblich. Das Kind blieb tot.

 

Gustav hatte inzwischen mit dem Vater und dem anderen Genossen sich den Zugang in eine versperrte und von Menschen scheinbar völlig verlassene Bauernwirtschaft er-zwungen. Hier durchstöberten sie jeden Raum, ja jedes Winkelchen im Wohnhause, ohne auch nur das geringste zu finden, das ihren Wunsch hätte befriedigen können. Miss-mutig erbrachen sie sodann eine mittelmäßige große Scheune, in der Hoffnung, wenigstens da etwas Brot, Mehl oder Getreide zu finden. Und diesmal war das Glück ihnen hold, denn zwischen Stroh gut versteckt, fand der alte Schwedenführer eine größere Menge ausgedroschenen Roggens, von dem zwei mitgebrachte Säcke gefüllt wurden.

Schon war der eine Roggensack durch den dritten Schweden hinausgetragen, während Gustav auf den Alten wartete, dass er ihm die andere Last auf die Schulter lege. Nach einigen Zuwarten kam der Vater aus der Strohmenge hervor-gekrochen; eine ziemlich schwere Last schleppend, suchte er vorsichtig bei jedem Schritte zwischen den wirr durch-einander geworfenen Strohbündeln und Häuflein festen Fuß zu fassen, bis er endlich so weit gekommen war, dass er seinem kräftigen Sohne den drückenden Sack übergeben konnte. Bei diesem Überlegen des Sackes stieß aber der Vater unvor-sichtiger Weise eine an einem Nagel hängende Sense herab, die mit solcher Wucht auf den Hals Gustavs fiel, dass er ohne jeden Aufschrei, aus klaffender Wunde blutend, leblos auf die Tenne fiel.

 

Schreckensbleich sprang der Vater an des Sohnes Seite, riss einen langen Streifen Tuches aus seinem Mantel, um damit eiligst die Wunde zu verbinden und das Fließen des Blutes zu stillen, allein er gab seinen wohlgemeinten Plan sofort auf, da er sah, dass der Kopf vom Rumpfe fast getrennt war und dass der Sensenschnitt bis auf den Wirbelknochen ging.

 

Schmerzpochenden Herzens rief er den Genossen, der das Korn hinausgetragen hatte, wieder in die Scheune zurück, trug mit diesem dem so unerwartet vor den ewigen Richterstuhl abgerufenen Soldatensohn hinaus und bestattete ihn da zur Erde. Mit einem roh und kunstlos zusammengefügten Holzkreuzlein bezeichnete er noch den Ort, wo er den Schweden-Husar, sein Kind, begraben hatte, dann zog er gebrochen und still zum Schwedenlager zurück.

Dieser Husar geht, so erzählt man, des Nachts sehr oft ohne Kopf aus dem Grabe heraus und treibt mit den Leuten seinen Spuck.

 

 

 

 

 

 

Der steinerne Junge bei Domsdorf

 

 

In der Nähe von Domsdorf trieb einst ein Kuhhirte seine Herde auf die Weide. Als er zu Mittag sein Brot aus der Tasche zog, bemerkte er, dass sein Dienstherr vergessen hatte, Butter darauf zu schmieren. Er warf, von Jähzorn gepackt, das Brot zur Erde, ergriff die Peitsche und schlug wie ein Rasender darauf los. Dabei schrei er aus Leibeskräften: „Brot, verschaff’ mir Butter!“  Doch kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, als er plötzlich zu Stein wurde. Kaplan Pater Kirchmann hat später auf dem Stein ein kleines eisernes Kreuz anbringen lassen.

 

 

Die Fenismännchen

 

 

Wundersam wirken die geheimen Kräfte der Mutter Erde. Sie entscheidet über Werden und Wachsen, Vergehen und Verjüngen, und der alte Vater, der Sturmgeist, wacht darüber.

Vielleicht kann man sich die Zauberkräfte der Mutter Erde wirklich nur als lebende, winzig kleine Wesen vorstellen, die zwischen Moosen und Gräsern, Blumen und Kräutern verborgen im Unterholz oder versteckt im Geröll, emsig Tag und Nacht ihrer Arbeit nachgehen, damit alles in der Welt seine Ordnung hat.

 

Etwas Genaues kann natürlich kein Mensch sagen. So ist es auch mit den berühmten Schalensteinen, die wir vor allem in der Gegend des uralten Städtchens Friedeberg finden - am sagenhaften Kienberg. Wir Jungferndorfer kennen den schmalen Weg entlang der Schlippe nach Friedeberg. Er führt vorbei an den gleichförmigen, ovalen oder runden Felsver-tiefungen auf granitenen Blöcken, in denen sich gut sitzen und träumen lässt. Das Volk hat sie auch als Sitzsteine bezeichnet und gemeint, in früherer Zeit der Götter und Riesen hätten sie diesem Zweck gedient.

 

Erst ganz fremde Stubengelehrte haben dem Volk nicht ordentlich „auf’ Maul geschaut“ und den abwegigen Namen „Venussteine“ aufgebracht. Die schlichten alten Leute meinten aber etwas ganz anderes, sie brachten die Steinpfannen mit den Fenismännlein in Verbindung und nannten sie „Feninsnappla“.

 

Längs der Altvaterberge ist im Schutze des Berggeistes das kleine Volks der Fenismännchen zuhaus, ein Zwergenstamm, dessen wundersame Kunde im ganzen Lande umging. - Schon vor alten Zeiten waren die Fenismännchen als menschen-freundlich bekannt. Sie taten den Bauern und Hirten, vor allem den armen Leuten, mancherlei Gutes. Erst später, als man sie foppte und neckte, spielten sie in vielfacher Weise übel mit und rächten sich. Diese fleißigen Helfer, auch als Heinzelmännchen bekannt, konnten also angeblich auch bösartig werden. So hieß es, sie trieben Kinderraub, legten missgestaltete Kinder in die Wiegen, ja es hieß sogar, dass sie hübsche Mädchen entführten.

Trotz dieser angedichteten Kehrseite waren die Fenis-männchen gutmütig, denn sie liebten ein ordentlichen Essen und einen guten Schluck. Sie konnten kochen, braten und backen, dass es eine helle Freude war und das Wasser einem im Munde zusammenlief, wenn der Duft aus den Erdlöchern und unterirdischen Höhlen einem verlockend in die Nase stieg.

Wer es noch nicht wissen sollte, dem sei es vom Kräuterweibel gesagt: Die unerreichte Kunst, einen guten Streuselkuchen zu backen, haben wir Schlesier von den Fenismännchen gelernt, gewiss auch, das „Schlesische Himmelreich“ herzurichten.

Aus den Wurzeln und Beeren, Wald- und Wiesenkräutern, aus Pilzen und Gewürzpflanzen bereiteten sie wohlschmeckende Getränke, die den Gaumen nur so kitzelten: Buchdorfer Bitter, Haugsdorfer Liköre, Altvaterschnaps, Kroatzbeere u.v.a.

 

Bei guter Laune haben die Fenismännchen in schwachen Stunden ihre Geheimnisse ausgeplaudert. Wer wacker arbeitet, soll auch gut essen, so hat man es in Schlesien allezeit gehalten. Ein altes schlesisches Sprichwort sagt:

 

„Dos sein die gesündesten Leute, die-de beim

 Assa schwitzen und beim Arbeeten frieren!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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